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gegangen. Gegangen? — Nein, gelaufen, gerannt! Es gab damals in
unsrer Stadt noch keine Straßenbeleuchtung, aber desto mehr Gespenster:
„es übte vor“, es „jankte“ draußen im „Austrom“, im Schlosse wurde
nachts eine kleine, braune Frau gesehen. Und das alles wurde mit jedem
Abend bei mir lebendig, und meine kleine Handlaterne warf zweifelhafte
Lichter auf die unbewohnte Plankenstrecke, die in jener Straße zu passieren
war. Hatte ich glücklich das Haus erreicht, so stürzte ich fast die Tür
ein, die Glocke läutete, hinten im Backhaus riß „Perle“ an der Kette
und erhob ein wütendes Gebell.
Atemlos stand ich vor dem kleinen, hitzigen Gesellen, der nun
freudewinselnd an mir aufstrebte. Kräftig dufteten die frischen Roggen—
brote, die reihenweise auf den Wandgestellen lagen, und nebenan in der
offenen Kammer stand die alte Mutter Wies am Backtrog, mit dem
Ansäuern des Teiges für den morgenden Tag beschäftigt. Im Backhaus
selbst drängte sich eine Schar von Nachbarskindern, die, mit irdenen
Schüsseln in der Hand, auf die Austeilung der Abendmilch warteten;
denn auch eine Milchwirtschaft wurde hier mit vier oder fünf schweren
Marschkühen betrieben.
„Lena noch nicht fardig?“ fragte ich auf plattdeutsch, und die alte
Frau hielt im Kneten inne, und ihre noch immer schönen Augen blickten
mit großmütterlicher Zärtlichkeit auf mich.
Nein, Lena und Vater Wies waren noch im Stalle beim Melken.
Schnell war meine Handleuchte ausgeblafen und auf den Tisch ge—
stellt, dann ging's über den dunkeln Steinhof und in den alten niedrigen
Stall hinein, durch den übrigens im Sommer der Weg zu einem seltsam
stillen Garten voll roter Zentifolien und kleiner, süßer Stachelbeeren
führte. Wie ein kleiner Bevorzugter dünkte ich mich den armen Nachbars—
kindern gegenüber, die beim Scheine des dünnen Talglichtes ruhig auf
ihrem Platze bleiben mußten, bis sie ihr herkömmliches Maß Milch zu—
gemessen erhalten hatten.
Unter dem Boden des Stalles hing eine Hornleuchte; aber es war
kein Licht, sondern nur eine Art leuchtenden Dunstes, den sie in einem
engen Kreise um sich her verbreitete. Und doch, für welch trauliche, kleine
Welt war sie der Mittelpunkt!
Aus dem Dunkel, wo die Kühe an ihren Raufen wiederkäuten, klang
es mir leibhaftig wie der alte Volksreim entgegen:
„Stripp, strapp, stroll —
Is de Ammer nich bald voll?“
Ich rief ihn denn auch lustig in das Dunkel hinein, und: „Ceduld
überwindet Schweinebraten!“ kam sogleich von dort her die heitere
Stimme meiner Freundin Lena an mich zurück, und unter einer andern
Kuh heraus erscholl als Begleitung im Grundbaß das behagliche Lachen