Object: Mittelstufe: Erster Kursus (Teil 3, [Schülerband])

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und mußte bei jedem Tanze und bei jedem Feste sein; sie verursachte 
dadurch ihrer alten Mutter viel Kummer, und diese ermahnte sie ost 
genug, aber es half nichts. Im Spätherbst und Winter, wenn die 
jungen Mädchen zum Spinnen zusammenkamen, dann ging die Lust erst 
recht los; dann wurde bis in die späte Nacht gespielt, gelärmt, gesungen 
und getanzt, und Marie war beim Nachhausegehen immer die letzte. 
Die Mutter hatte das lange in Geduld angesehen, weil ihre Ermahnungen 
doch nichts halfen. Einmal aber, am Marientag, als Marie wieder zur 
Spinnstube ging, sagte sie zu ihrer Tochter: „Versprich mir nur heute, 
daß du vor Mitternacht nach Hause kommen und dich nicht auf der 
Straße herumtreiben willst. Heute ist unserer lieben Frauen Tag, und 
wenn an dem die Kinder gegen ihre Eltern ungehorsam sind, so werden 
sie auf der Stelle bestraft". Marie versprach ihrer Mutter unter 
Thränen, zur rechten Zeit nach Hause zu kommen, so wahr der Mond 
am Himmel stehe. Sie nahm alsdann ihr Rad und ging. Aber sie 
hatte kaum eine Stunde gesponnen, als sich draußen Gesang und Musik 
hören ließ und die jungen Bursche des Dorfes ankamen. Sie hatten 
Spielleute geholt; die Spinnräder wurden beiseite geworfen, und 
alles tanzte und sprang; es war schon lange Mitternacht vorüber, als 
man sich endlich anschickte aus einander zu gehen. Die Musik zog mit, 
und als man am Kirchhofe vorbeikam und die Thüre offen fand, raste 
die ausgelassene Schar auf den Kirchhof und fing dort von neuem an 
zu tanzen. Marie dachte nicht mehr an ihr Versprechen und tanzte 
lustig mit im hellen Mondenscheine. 
Die alte Mutter saß unterdessen unruhig in ihrem Stübchen und 
wartete mit Schmerzen auf ihre Tochter. Da hörte sie auf einmal aus 
der Ferne das Schreien und Lärmen auf dem Kirchhofe. Sie ahnte, 
wer dabei sei, und die Angst um ihr Kind trieb sie hinaus. Bald kam 
sie auf den Kirchhof und^sah ihre Marie mitten in dem tollen Haufen. 
Das war ihr ein Stich ins Herz; sie rief daS leichtsinnige Mädchen 
und befahl ihr, augenblicklich nach Hause zu kommen. Marie aber 
erwiderte ganz keck: „El Mutter, der Mond scheint noch so helle! Geh 
du nur, ich komme bald." Da war die Mutter im tiefsten Herzen 
ergrimmt und rief: „Ich wollte doch, daß das ungeratene Kin^ im 
Monde säße und dort spinnen müßte!" Kaum hatte die Alte diese 
Verwünschung ausgesprochen, als sie auch in Erfüllung ging. Wie ein 
Blitz flog Marie mit ihrem Rade in der Hand dem Monde zu, und da 
sitzt sie noch und spinnt, und wenn er ganz hell scheint, kann man sie 
deutlich sehen. Sie spinnt seine, zarte Fäden, die fallen zur Herbstzeit 
auf die Erde hinunter, der Wind jagt und zerreißt sie dann und treibt 
sie aus Hecken und Bäume, und die Leute nennen sie Sommerseide oder 
Mariensädchen, auch Alteweibersommer. 
Marie Schäling (Sagen aus preuß. Landen).
	        
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