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und mußte bei jedem Tanze und bei jedem Feste sein; sie verursachte
dadurch ihrer alten Mutter viel Kummer, und diese ermahnte sie ost
genug, aber es half nichts. Im Spätherbst und Winter, wenn die
jungen Mädchen zum Spinnen zusammenkamen, dann ging die Lust erst
recht los; dann wurde bis in die späte Nacht gespielt, gelärmt, gesungen
und getanzt, und Marie war beim Nachhausegehen immer die letzte.
Die Mutter hatte das lange in Geduld angesehen, weil ihre Ermahnungen
doch nichts halfen. Einmal aber, am Marientag, als Marie wieder zur
Spinnstube ging, sagte sie zu ihrer Tochter: „Versprich mir nur heute,
daß du vor Mitternacht nach Hause kommen und dich nicht auf der
Straße herumtreiben willst. Heute ist unserer lieben Frauen Tag, und
wenn an dem die Kinder gegen ihre Eltern ungehorsam sind, so werden
sie auf der Stelle bestraft". Marie versprach ihrer Mutter unter
Thränen, zur rechten Zeit nach Hause zu kommen, so wahr der Mond
am Himmel stehe. Sie nahm alsdann ihr Rad und ging. Aber sie
hatte kaum eine Stunde gesponnen, als sich draußen Gesang und Musik
hören ließ und die jungen Bursche des Dorfes ankamen. Sie hatten
Spielleute geholt; die Spinnräder wurden beiseite geworfen, und
alles tanzte und sprang; es war schon lange Mitternacht vorüber, als
man sich endlich anschickte aus einander zu gehen. Die Musik zog mit,
und als man am Kirchhofe vorbeikam und die Thüre offen fand, raste
die ausgelassene Schar auf den Kirchhof und fing dort von neuem an
zu tanzen. Marie dachte nicht mehr an ihr Versprechen und tanzte
lustig mit im hellen Mondenscheine.
Die alte Mutter saß unterdessen unruhig in ihrem Stübchen und
wartete mit Schmerzen auf ihre Tochter. Da hörte sie auf einmal aus
der Ferne das Schreien und Lärmen auf dem Kirchhofe. Sie ahnte,
wer dabei sei, und die Angst um ihr Kind trieb sie hinaus. Bald kam
sie auf den Kirchhof und^sah ihre Marie mitten in dem tollen Haufen.
Das war ihr ein Stich ins Herz; sie rief daS leichtsinnige Mädchen
und befahl ihr, augenblicklich nach Hause zu kommen. Marie aber
erwiderte ganz keck: „El Mutter, der Mond scheint noch so helle! Geh
du nur, ich komme bald." Da war die Mutter im tiefsten Herzen
ergrimmt und rief: „Ich wollte doch, daß das ungeratene Kin^ im
Monde säße und dort spinnen müßte!" Kaum hatte die Alte diese
Verwünschung ausgesprochen, als sie auch in Erfüllung ging. Wie ein
Blitz flog Marie mit ihrem Rade in der Hand dem Monde zu, und da
sitzt sie noch und spinnt, und wenn er ganz hell scheint, kann man sie
deutlich sehen. Sie spinnt seine, zarte Fäden, die fallen zur Herbstzeit
auf die Erde hinunter, der Wind jagt und zerreißt sie dann und treibt
sie aus Hecken und Bäume, und die Leute nennen sie Sommerseide oder
Mariensädchen, auch Alteweibersommer.
Marie Schäling (Sagen aus preuß. Landen).