Full text: [[Abteilung 1] = Abteilung für Tertia und Untersekunda in einem Bande, [Schülerband]] ([Abteilung 1] = Abteilung für Tertia und Untersekunda in einem Bande, [Schülerband])

230 
A. Erzählende Prosa. I. Sagen. 
keinen; aber noch immer können seine Augen die Ersehnte nicht erspähen; züchtig und 
still hält sie sich wie bisher in ihrer engen Kemenate. Jetzt wird zur Feier des 
Sieges ein großes, heiteres Ritterspiel gehalten, und an dem fröhlichen Psingst- 
feste ziehen von nah und fern die Höchsten und Besten, unter ihnen allein zwei¬ 
unddreißig Fürsten, zum Hofe der Bnrgundenkönige. Da darf endlich auch an 
der Seite ihrer Mutter Ute, im Geleit von hundert schwerttragenden Kämmerern 
und hundert geschmückten Edelfrauen und Fräulein, Kriemhild zum erstenmal 
öffentlich erscheinen, und sie geht auf wie das Morgenrot aus trüben Wolken, 
in mildem Schimmer der Jugend, der Schönheit und der stillen Liebe, wie der 
Mond in mildem Schimmer neben den Sternen durch die Wolken leuchtet. 
Fern steht Siegfried: Wie könnte das ergehen, daß ich dich minnen sollte? Das 
ist ein törichter Wahn. Soll ich dich aber verlassen, so wäre ich lieber tot. — 
Da heißt nach höfischer Sitte Günther auf Gernots Antrieb Siegfried heran¬ 
treten, daß er ihre Schwester begrüße. Und der Held tritt heran und neigt sich 
minniglich vor der Jungfrau; da zieht sie zueinander der sehnenden Minne 
Zwang, und mit liebenden Blicken sehen sie verstohlen einander an. Noch aber 
wird kein Wort gewechselt, bis nach der Messe, mit der das Fest begann, die 
Jungfrau dem Helden Dank sagt für den tapferen Beistand, welchen er ihren 
Brüdern geleistet. „Das ist euch zu Dienste geschehen, Frau Kriemhild," ant¬ 
wortet Siegfried, und nun, nachdem der Mund sich auch etwas getraut, bleibt 
Siegfried zwölf Tage, die Dauer des Nitterfestes über, in der Nähe des minnig- 
lichen Mägdleins. Dann ziehen die fremden Gäste von dannen, auch Siegfried 
rüstet sich zur Heimfahrt; „denn er getraute sich nicht zu erwerben, wozu er 
Mut hatte", d. h. was er wünschte. Doch leicht läßt er sich durch die Zureden 
des jungen Giselher bestimmen, noch länger da zu verweilen, wo er, wie das 
Lied treuherzig sagt, am liebsten war und wo er täglich die schöne Kriemhild sah. 
Um die Hand der Geliebten endlich zu erringen, fährt Siegfried dann mit 
Günther über die See nach dem Jsenstein. 
5. Brunhild. 
Es war eine Königin gesessen jenseit der See; herrlich in wunderbarer 
Schönheit, aber auch herrlich in wunderbarer, fast unheimlicher Kraft; mit 
Männern, die ihre Minne begehrten, warf sie um diese Minne die Lanze, 
schlenderte sie den Wurfstein und sprang dem geworfenen Steine nach in 
kühnem Sprunge; nur dem, der ohne Wanken in jedem dieser drei Spiele sie 
besiegte, wollte sie sich ergeben. Wer unterlag, verlor das Haupt. Schon 
mancher Held war umsonst gefahren nach der Minne der starken Kampfjnngfrau 
Brunhild, um niemals wiederzukehren; da beschließt der König Günther von 
Burgnndenland, das Leben um ihre Minne zu wagen, und fordert Siegfried 
auf, ihm bei der Werbung zu helfen. Siegfried sagt es zu, wenn Günther ihm 
seine Schwester Kriemhild zum Weibe geben wolle; Günther gelobt, dies zu tun, 
sobald Brunhild in sein Land gekommen sein werde. Mit einem Eide wird dieser 
Bund bekräftigt. Das Schiff steht zur Abfahrt gerüstet: goldfarbene Schilde und 
reiche Gewände werden an das Gestade getragen, und aus den Fenstern schauen 
die trüben Angen minniglicher Kinder den Helden nach, die unter dem schwellenden 
Segel am Ruder des Rheinschiffes sitzen. Denn Siegfried, der kundige See-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.