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A. Erzählende Prosa. I. Sagen.
keinen; aber noch immer können seine Augen die Ersehnte nicht erspähen; züchtig und
still hält sie sich wie bisher in ihrer engen Kemenate. Jetzt wird zur Feier des
Sieges ein großes, heiteres Ritterspiel gehalten, und an dem fröhlichen Psingst-
feste ziehen von nah und fern die Höchsten und Besten, unter ihnen allein zwei¬
unddreißig Fürsten, zum Hofe der Bnrgundenkönige. Da darf endlich auch an
der Seite ihrer Mutter Ute, im Geleit von hundert schwerttragenden Kämmerern
und hundert geschmückten Edelfrauen und Fräulein, Kriemhild zum erstenmal
öffentlich erscheinen, und sie geht auf wie das Morgenrot aus trüben Wolken,
in mildem Schimmer der Jugend, der Schönheit und der stillen Liebe, wie der
Mond in mildem Schimmer neben den Sternen durch die Wolken leuchtet.
Fern steht Siegfried: Wie könnte das ergehen, daß ich dich minnen sollte? Das
ist ein törichter Wahn. Soll ich dich aber verlassen, so wäre ich lieber tot. —
Da heißt nach höfischer Sitte Günther auf Gernots Antrieb Siegfried heran¬
treten, daß er ihre Schwester begrüße. Und der Held tritt heran und neigt sich
minniglich vor der Jungfrau; da zieht sie zueinander der sehnenden Minne
Zwang, und mit liebenden Blicken sehen sie verstohlen einander an. Noch aber
wird kein Wort gewechselt, bis nach der Messe, mit der das Fest begann, die
Jungfrau dem Helden Dank sagt für den tapferen Beistand, welchen er ihren
Brüdern geleistet. „Das ist euch zu Dienste geschehen, Frau Kriemhild," ant¬
wortet Siegfried, und nun, nachdem der Mund sich auch etwas getraut, bleibt
Siegfried zwölf Tage, die Dauer des Nitterfestes über, in der Nähe des minnig-
lichen Mägdleins. Dann ziehen die fremden Gäste von dannen, auch Siegfried
rüstet sich zur Heimfahrt; „denn er getraute sich nicht zu erwerben, wozu er
Mut hatte", d. h. was er wünschte. Doch leicht läßt er sich durch die Zureden
des jungen Giselher bestimmen, noch länger da zu verweilen, wo er, wie das
Lied treuherzig sagt, am liebsten war und wo er täglich die schöne Kriemhild sah.
Um die Hand der Geliebten endlich zu erringen, fährt Siegfried dann mit
Günther über die See nach dem Jsenstein.
5. Brunhild.
Es war eine Königin gesessen jenseit der See; herrlich in wunderbarer
Schönheit, aber auch herrlich in wunderbarer, fast unheimlicher Kraft; mit
Männern, die ihre Minne begehrten, warf sie um diese Minne die Lanze,
schlenderte sie den Wurfstein und sprang dem geworfenen Steine nach in
kühnem Sprunge; nur dem, der ohne Wanken in jedem dieser drei Spiele sie
besiegte, wollte sie sich ergeben. Wer unterlag, verlor das Haupt. Schon
mancher Held war umsonst gefahren nach der Minne der starken Kampfjnngfrau
Brunhild, um niemals wiederzukehren; da beschließt der König Günther von
Burgnndenland, das Leben um ihre Minne zu wagen, und fordert Siegfried
auf, ihm bei der Werbung zu helfen. Siegfried sagt es zu, wenn Günther ihm
seine Schwester Kriemhild zum Weibe geben wolle; Günther gelobt, dies zu tun,
sobald Brunhild in sein Land gekommen sein werde. Mit einem Eide wird dieser
Bund bekräftigt. Das Schiff steht zur Abfahrt gerüstet: goldfarbene Schilde und
reiche Gewände werden an das Gestade getragen, und aus den Fenstern schauen
die trüben Angen minniglicher Kinder den Helden nach, die unter dem schwellenden
Segel am Ruder des Rheinschiffes sitzen. Denn Siegfried, der kundige See-