8. Das Leni.
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Lammwirt, und ein rascher, leicht zorniger Mann, wie er war, fuhr er ihn
an: „Ja — nein — hört denn — das mit dem Kind, dem Leni, das ist eine
Schande und ein Spott, so geht man nicht um mit seinem Kind; so-"
„Wa—as?" stieß Senn mit offenem Maule hervor, „ich, ich —"
Da stand das Leni selber in der Tür, ein wenig bleicher vielleicht noch
als früher, ein wenig schmächtiger noch vielleicht, aber einen sonderbaren
Glanz in den grauen Augen. „Was sagt Ihr, Herr Pfarrer?" sprach sie,
während zwei brennrote Flecken, wie zwei fremde Vögelchen auf ihre Wangen
flogen. „Der Vater ist doch recht mit mir, das ist er, und —"
„In die Schule gehörst du, Mädchen", fiel der Pfarrer ihr in die Rede.
„Eine Sünde ist es, eines aufwachsen zu lassen wie dich!"
Das Leni trat näher; sie war jetzt schneeweiß im Gesicht. „Herr
Pfarrer", sagte sie mit seltsamer Festigkeit und Altklugheit, „wie wir es
haben, weiß keiner zu sagen als wir. Uns gibt keiner etwas, also soll auch
niemand etwas von uns wollen. Wir müssen uns selber helfen. Ich muß
hier bleiben und helfen; der Vater hat sonst niemand."
„Ja, ja, sie muß hier bleiben", bekräftigte der Lammwirt, und es
schien, als richtete er sich an der Stärke des Kindes auf; denn er fügte hinzu:
„Überhaupt, dareinreden soll man uns nicht!"
Nach einer Weile zog auch der Pfarrherr unverrichteter Sache ab,
wie die Veronika ehemals abgezogen war. Aber als er gegangen war, saß
das Leni in der rauchschwarzen, unsauberen Küche auf einer Bank, seufzte
und legte die Hände in den Schoß, und zum erstenmal war eine große Müdig¬
keit an ihr. Es fiel ihr ein, daß das Jn-die-Schule-gehen doch leichter ge¬
wesen sei. Eine Sehnsucht kam sie an, auf die Gasse hinunterzulaufen, wo
sie sonst mit den Dorfmädchen gespielt hatte, und auf einmal erschien sie sich
wie mit Riemen in einen Käsig gebunden. Arme und Beine waren ihr
bleischwer, die Schultern drückten sie. Wieder seufzte sie zitternd. Dann
fiel ihr der Morgen ein, an dem die Mutter gestorben war; wie da alles
hatte stillstehen wollen, wie doch eines sich hatte aufraffen müssen — damit
es wieder weiterging im Haus. Ja und jetzt — was auch der Pfarrer und
die andern sagten —, es war ganz recht, es konnte nicht anders sein, als
wie es war — daß — sie, das Leni, jetzt im Hause schaffte! Die Arbeit
war ihr auch nicht zu viel; sie hätte nicht einmal daran gedacht, daß sie mehr
tat, als für Kinder ihres Alters gewöhnlich war, erst die andern machten
sie darauf aufmerksam, und — und, ja, müde war sie jetzt schon manchmal,
so viel blieb wahr, und das Bett war ihr jetzt eine Freude, in das sie sonst
nie spät genug hatte schlüpfen können.
Falk, Künoldt, Ltppelt, Lesebuch für höhere Mädchenschulen. VI. Teil.
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