Klee: Walther und Hildegunde.
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Noch immer zauderte Hagen; er erwog im Herzen die alte Treue,
die er Walther so oft gelobt hatte; als aber der König ihm zu Füßen
stürzte und nicht aufhörte flehentlich zu bitten, da ward er von Mit¬
leid und Scham bewegt, sein bleiches Antlitz färbte sich rot, und er
begann zu überlegen, daß seine Ehre Schaden litte, wenn er noch länger
zögerte. Endlich sprang er auf und rief: „O Herr, wohin verlockest
du mich? Wohlan denn, ich gehorche dir. Wahrlich, nicht des lieben
Neffen Tod vermöchte mich, die Treue zu brechen; nur für dich, mein
König, gehe ich gewisser Gefahr entgegen. So höre meinen Rat! laß
uns von hier wegreiten und ihm Raum zum Abzüge geben. In heim¬
lichem Versteck geborgen, wollen wir dem Helden auflauern; dann wird
er wähnen, wir seien abgezogen, und seine enge Felsenburg verlassen.
Wir aber folgen ihm und greifen ihn im offenen Felde an. So nur
dürfen wir es wagen, mit dem unbezwinglichen Recken zu streiten.
Auch du, o König, magst dann kämpfen nach Herzenslust; denn nimmer
wird jener uns beiden die Flucht vergönnen."
Solcher Rat gefiel dem Könige; er umfing den Getreuen mit den
Armen und küßte ihn. Darauf zogen sich die beiden zurück und er¬
spähten einen sichern Hinterhalt. Dort lagerten sie sich und ließen
ihre Rosse weiden.
Unterdes war die Sonne untergegangen und die finstere Nacht
hereingebrochen. Sinnend stand Walther, der weise Held, und bedachte,
ob er ruhig in seiner sichern Felsenburg bleiben oder durch die öde
Wildnis fortziehen sollte. Nur den listigen Hagen scheute er, und
jener Kuß des Königs deuchte ihn verdächtig. Was mochten wohl die
Feinde im Sinne haben? Zogen sie vielleicht zur Stadt zurück, um
während der Nacht noch mehr Genossen zu sammeln und am nächsten
Morgen mit frischen Kräften den schändlichen Kampf zu erneuern?
Oder lauerten sie allein im nahen Hinterhalt? Und wenn er nun auch
ihnen entginge? Konnte er nicht im schaurigen Wald sich verirren?
Wie, wenn er im Dunkel der Nacht die Geliebte verlöre oder wilde
Tiere sie anfielen?
Alles dies erwog er im Herzen; dann sprach er: „Komme, was
da wolle! Hier will ich rasten, bis das liebe Tageslicht erscheint; nimmer
soll der hochmütige König sich rühmen, daß ich wie ein Dieb bei Nacht
und Nebel aus seinem Reiche entwich." Hierauf hieb er von den nahen
Büschen Dornen und Äste ab und schuf von ihnen ein Bollwerk, das
den engen Pfad versperrte. Dann wandte er sich mit bitteren Seufzern
zu den Leichen der Erschlagenen und fügte jedem Rumpfe sein Haupt
an. Gen Osten gewendet, kniete er nieder, hielt das entblößte Schwert
in der Hand und betete also: „O du Schöpfer und Regierer aller
Dinge! dir, ohne dessen Willen nichts geschieht, sage ich Dank, daß du
mich beschirmtest vor den Genossen der feindlichen Schar und vor
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