Full text: Prosalesebuch für Untertertia der Vollanstalten oder Klasse III der Realschulen (Teil 4, [Schülerband])

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nicht — Hagen glaubt sie gewonnen zu haben, den einzigen, vor 
dem ihr vielleicht bangt—, aber sie scheidet mit dem Worte: „Hals 
du von mir scheiden willst, dass tut mir inniglichen weh.“ 
Die Jagd ist vollendet. Die Helden und voran Siegfried, der 
5 das meiste Wild erlegt, sind von dem Rennen in der Sommerhitze 
müde und durstig; doch Hagen hat keinen Wein zum Mahle ge¬ 
bracht. Er weiss aber in dem Walde einen Brunnen: dahin, rät er, 
solle man ziehen. Man bricht auf, und schon hat man die breite 
Linde im Gesichte, unter deren Wurzeln der kühle Quell ent- 
io springt, da beginnt Hagen: „Man hat viel davon gesagt, dass dem 
schnellen Siegfried niemand folgen könne im eiligen Lauf: wolle 
er uns das doch sehen lassen.“ „Lasst uns,“ entgegnet Siegfried, 
„zur Wette laufen nach dem Brunnen, ich werde mein Jagdgewand, 
auch Schwert, Ger und Schild behalten, legt ihr die Kleider ab.“ 
i5 Es geschieht, der Wettlauf beginnt; wie wilde Panther springen 
Hagen und Günther durch den Waldklee, aber Siegfried ist bei 
weitem zuerst zur Stelle. Ruhig legt er nun Schwert, Bogen und 
Köcher ab, lehnt den Ger an der Linde Äste und setzt den Schild 
neben den Brunnen, wartend, bis der König auch herangekommen 
2o sei, um ihn zuerst trinken zu lassen. Günther kommt heran und 
trinkt; nach ihm beugt sich auch Siegfried zum Brunnen nieder; 
da springt Hagen herzu, trägt im raschen Sprunge die Waffen, die 
er erreichen kann, abseits, den Ger behält er selbst in der mörde¬ 
rischen Faust, und indem Siegfried noch die letzten Züge an dem 
25 Brunnen einschlürft, schleudert Hagen den Ger durch das Kreuzes¬ 
zeichen im Gewände Siegfrieds, dass sein Blut hoch emporspritzt. 
Wütend springt der Todwunde auf vom Brunnen; die Gerstange 
ragt ihm aus der Wunde. Er greift nach Bogen und Schwert — 
er findet keine Waffe; da fasst er den Schild, den Hagen nicht hat 
3o beiseite schaffen können, und stürzt auf Hagen los. Grimmig 
schlägt er mit dem Schilde den Mörder zu Boden, der Wald hallt 
wider von der Wucht seiner Schläge. Da erbleicht seine lichte 
Farbe, die Füsse wanken, er fällt dahin in die Blumen, und in 
breiten Strömen stürzt das Herzblut aus der Todeswunde. Mit der 
35 letzten Kraft wendet er sich zornig zu seinen Mördern und schilt 
sie, die seine Treue so gelohnt. Und als nun der Burgundenkönig 
einen Ton der Klage um den Gefallenen vernehmen lässt, da regt 
sich noch einmal das bittere Leid des Lebens in Siegfrieds Seele. 
„Das ist nicht not,“ spricht der Todwunde, „dass der nach dem 
40 Schaden weinet, der ihn getan hat; es wäre besser unterblieben.“
	        
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