118
nicht — Hagen glaubt sie gewonnen zu haben, den einzigen, vor
dem ihr vielleicht bangt—, aber sie scheidet mit dem Worte: „Hals
du von mir scheiden willst, dass tut mir inniglichen weh.“
Die Jagd ist vollendet. Die Helden und voran Siegfried, der
5 das meiste Wild erlegt, sind von dem Rennen in der Sommerhitze
müde und durstig; doch Hagen hat keinen Wein zum Mahle ge¬
bracht. Er weiss aber in dem Walde einen Brunnen: dahin, rät er,
solle man ziehen. Man bricht auf, und schon hat man die breite
Linde im Gesichte, unter deren Wurzeln der kühle Quell ent-
io springt, da beginnt Hagen: „Man hat viel davon gesagt, dass dem
schnellen Siegfried niemand folgen könne im eiligen Lauf: wolle
er uns das doch sehen lassen.“ „Lasst uns,“ entgegnet Siegfried,
„zur Wette laufen nach dem Brunnen, ich werde mein Jagdgewand,
auch Schwert, Ger und Schild behalten, legt ihr die Kleider ab.“
i5 Es geschieht, der Wettlauf beginnt; wie wilde Panther springen
Hagen und Günther durch den Waldklee, aber Siegfried ist bei
weitem zuerst zur Stelle. Ruhig legt er nun Schwert, Bogen und
Köcher ab, lehnt den Ger an der Linde Äste und setzt den Schild
neben den Brunnen, wartend, bis der König auch herangekommen
2o sei, um ihn zuerst trinken zu lassen. Günther kommt heran und
trinkt; nach ihm beugt sich auch Siegfried zum Brunnen nieder;
da springt Hagen herzu, trägt im raschen Sprunge die Waffen, die
er erreichen kann, abseits, den Ger behält er selbst in der mörde¬
rischen Faust, und indem Siegfried noch die letzten Züge an dem
25 Brunnen einschlürft, schleudert Hagen den Ger durch das Kreuzes¬
zeichen im Gewände Siegfrieds, dass sein Blut hoch emporspritzt.
Wütend springt der Todwunde auf vom Brunnen; die Gerstange
ragt ihm aus der Wunde. Er greift nach Bogen und Schwert —
er findet keine Waffe; da fasst er den Schild, den Hagen nicht hat
3o beiseite schaffen können, und stürzt auf Hagen los. Grimmig
schlägt er mit dem Schilde den Mörder zu Boden, der Wald hallt
wider von der Wucht seiner Schläge. Da erbleicht seine lichte
Farbe, die Füsse wanken, er fällt dahin in die Blumen, und in
breiten Strömen stürzt das Herzblut aus der Todeswunde. Mit der
35 letzten Kraft wendet er sich zornig zu seinen Mördern und schilt
sie, die seine Treue so gelohnt. Und als nun der Burgundenkönig
einen Ton der Klage um den Gefallenen vernehmen lässt, da regt
sich noch einmal das bittere Leid des Lebens in Siegfrieds Seele.
„Das ist nicht not,“ spricht der Todwunde, „dass der nach dem
40 Schaden weinet, der ihn getan hat; es wäre besser unterblieben.“