Full text: Prosalesebuch für Untertertia der Vollanstalten oder Klasse III der Realschulen (Teil 4, [Schülerband])

Einst hatte er sich auch mit ihnen geschlagen und mußte vor 
ihrer Übermacht fliehen. Da kam er bei Nacht und Nebel denn 
auch an den Main, den er aber nicht überschreiten konnte, und 
doch waren die Sachsen hinter ihm, und groß war die Not. Da 
5 betete der Kaiser zu Gott und tat ein Gelübde, wenn Gott ihn 
sicher über den Strom führe, wolle er drüben zur Ehre des Herrn 
eine Stadt gründen. 
Auf einmal zerteilte sich der Nebel, und die Franken sahen eine 
weiße Hirschkuh mit ihren Jungen durch das Wasser gehen bis an 
10 das jenseitige Ufer. Sie folgten ihr nach durch die Furt und kamen 
wohlbehalten an das andere Ufer. Die Sachsen aber konnten den 
Äbergangspunkt nicht wiederfinden; denn der Nebel hatte sich wieder 
gesenkt. 
Als der Kaiser aber drüben sein Heer wieder beisammen sah, 
iS rief er fröhlich aus: „Hier wollen wir eine Stadt bauen. Die 
soll , Franken-Furt' heißen, dort drüben aber sollen die Sachsen 
hausen!" Bis auf den heutigen Tag nennt man daher die Stadt 
am Main: „Frankfurt und Sachsenhausen", und auf der Sachsen- 
häuser Brücke, nicht weit von der Stelle, an der die Furt war, 
so steht das Denkmal des Kaisers, des Gründers der alten Mainstadt. 
36. Widukind. 
Fritz Lienhard. Helden. Leipzig und Berlin 1900. 
In Deutschland war Winter. Scharf pfiff der Nordwind über 
die sächsischen Wälder; die zackigen Reiser des Eichwaldes zitterten 
und froren. Sterne blinkten über leerem Lande; Winteröde, soweit 
der Gedanke flog. 
5 An einem Baum am Waldrand lehnte ein hoher Krieger: in 
den Mantel gehüllt, die Arme über der Brust gekreuzt, das buschige 
Auge regungslos hinausgerichtet auf einen fernen Punkt. Tief dort 
im Dämmer der Mondnacht funkelte König Karls Heerlager. 
Eine Welt war in Aufruhr im Herzen dieses einsamen Mannes; 
io eine Welt voll Schmerz und Weh. Aber keinen Seufzer fand er 
in dieser entscheidenden Nacht; die Zähne bist er zusammen, in keinem 
Laute gab er seinem Herzweh Luft. Starr und kalt stand er, eine 
Eiche unter Eichen. 
Das war der Sachsenherzog Widukind. Gehetzt von den Fran- 
i5> ken, irrte der Fürst wie der Wolf in den Waldgründen seiner zer¬ 
tretenen Heimat. Ein Verbannter in seinem eigenen Lande war
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.