230
wird. Der letzte Hammerschlag an der Arbeit ist verklungen; nur der
Schall des Domgeläutes, der Kaiserglocke, tönt von draußen herein in
die Säulenhalle und zittert in dem Chore nach. Du bist allein im
steinernen Eichenhain. Du stehst und lauschest. Es ist so still; du könntest
das Ächzen der steinernen Bäume hören. Schaue dir an diesen in Felsen
gearbeiteten frommen Gedanken. Heiliger Glaube hat diesen Tempel er¬
sonnen, felsenfeste Zuversicht, die wie ein Trotz gegen die Elemente er¬
scheint, ihn auszuführen unternommen. Und du siehst hier die Größe
Hand in Hand mit lieblicher Kindlichkeit, Arm in Arm mit tändelnder
Unschuld und süßer, träumerischer Grazie. Aus den Wipfeln dieser
Bäume knospet überall ein buntes Frühlingsleben. Blumen sprießen
aus der Kraft der ungeheuren Stämme, deren gewölbte Äste das Dach
dieses Kirchenhimmels tragen, und wo die Zweige in der Spitze der
Wölbungen sich finden und verschlingen, da bricht die Rosenform das
Auge eines Engels auf. Läßt sich nun auch das Unermeßliche des Welt¬
alls nicht in beschränktem Raume versinnlichen, so liegt gleichwohl in
diesem kühnen Emporstreben der Pfeiler und Mauern das Unaufhaltsame,
welches die Einbildungskraft so gern in das Grenzenlose verlängert.
Hier an den gotischen Säulen, die einzeln genommen wie Rohrhalme
schwanken würden und nur in großer Anzahl zu einem Schafte vereinigt
Masse machen und ihren geraden Wuchs behalten können; unter ihren
Bögen, die gleichsam auf nichts ruhen, die luftig schweben wie die schatten¬
reichen Wipfelgewölbe des Waldes: — hier schwelgt der Sinn in Über¬
mut des künstlerischen Beginnens.
Um einen richtigen Einblick zu erhalten in die riesigen Verhältnisse
des ganzen Baues und die wunderbare Harmonie der einzelnen Architektur¬
teile untereinander, besteigen nur die Galericen und die Türme. Auf
einer Wendeltreppe im Südportal gelangen wir auf 137 Stufen zu der
durch eine zierliche, durchbrochene Brüstung geschützten, äußeren, den
ganzen Bau umlaufenden Galerie. Wir sehen in den Wald der Strebe¬
pfeiler und in die Masse der kühngeschwungenen Bogenwölbungen, be¬
wundern die Phantasie, die sich in den zu Wasserspeiern gemodelten Un¬
getümen und sagenhaften Unholden ausspricht; wir betrachten staunend
das zierliche, mannigfaltige Blattwerk, welches die Fialen umzieht, die
Blumen, welche die Gesimse schmücken, und die kolossalen Figuren, welche
die Aufsätze der Strebepfeiler zieren. Es ist „architektonische Musik",
die aus diesen lebendig gewordenen Steinen zum Himmel emporstrebt.
Weitere 98 Stufen der Wendeltreppe führen auf die am Fuße des
Daches liegende oberste Galerie, die in einer Länge von 500 m den Bau
umfaßt. Von der Großartigkeit der einzelnen Teile, die von unten in
den zierlichsten Verhältnissen erscheinen, giebt nichts eine klarere An¬
schauung als der den First des Daches krönende vergoldete Kamiw und
das die äußerste Spitze des Chores schmückende Kreuz. Ein Hinabblick
in das Innere des Chores, den wir durch eine Gcwölbevffnuug genießen
können, ist von unvergeßlichem Eindruck. 94 Stufen geleiten uns zur
offenen Galerie des in Eisen ausgeführten Dachreiters oder Mittclturms,
die dem Auge eine unermeßliche Aussicht darbietet. Der ganze Bau in
seiner Grundlage liegt unter uns, wie er sich aus der Krcuzfvrm mit