Full text: [Teil 4, [Schülerband]] (Teil 4, [Schülerband])

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verbannt; der Gesang der Nachtigallen und anderer Singvögel verstummt 
in der Nähe der Städte, überhaupt zeigt sich die belebte Natur nicht mehr 
in der Fülle der Mannigfaltigkeit, womit sie sonst das Auge erfreute. 
Es kann nicht geleugnet werden, daß die Kultur den Reiz der freien 
Natur in gewissen Punkten beeinträchtigt, aber cs ist das einmal doch nur 
in beschränktem Grade der Fall, und ferner wird der Verlust an Natur¬ 
freude reichlich ersetzt durch den Naturgenuß, den uns der Geist des 
Menschen neu schafft. So bedeutend auch der Einfluß des Menschen aus 
die Natur erscheint, so ist er doch bei weitem nicht so groß, wie man bei 
oberflächlicher Betrachtung leicht annimmt. Wenngleich der Erdboden mit 
der ihn bedeckenden Pflanzen- und Tierwelt durch den Menschen merklich 
umgestaltet wird, so bleiben uns doch unverändert die Sonne, der Mond 
und die Sterne samt allen Erscheinungen, die von ihnen ausgehen. Auch 
das Meer mit dem wechselnden Schauspiel, das es darbietet, behalten wir; 
selbst die größten dem Meere abgewonnenen Strecken sind doch nur ver¬ 
schwindend klein gegen die ungeheure Fläche der See. Ebenso bleiben 
uns die großen Landsecn und die Flüsse wie die Linien der Gebirge mit 
allen den Abwechselungen, welche sie unter dem Einflüsse des wechselnden 
Lichts dem Auge darstellen. So erleidet das Bild der Landschaft in 
seinen Grundzügen keine Umgestaltung, wenn auch sein Charakter im 
einzelnen vielfachem Wechsel unterworfen ist. Der blaue, sanfte Tag¬ 
himmel, der goldene Sonnenstrahl, die schimmernde Meerflut, das sternen- 
besäete Gezelt der Nacht, die anmutigen Formen der Hügelketten und 
Thalmulden — sie alle erfüllen das Herz des Menschen wie vor Jahr¬ 
tausenden so noch zur heutigen Stunde mit nimmer versiegender Freude. 
„Die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns." 
Nicht vergessen werden darf, daß die durch die Hand des Menschen 
geordneten oder veränderten Naturgegenstände ihre besondere Schönheit 
besitzen, die wir ohne solche Kultur gar nicht genießen würden. Auch 
das wallende Kornfeld ist schön; schön sind nicht minder die langen 
Alleen der lombardischen Tiefebene mit ihren von Baum zu Baum sich 
schlingenden Rebengcländen. Schön ist ein Bogengang grünender Bäume 
oder eine Mauer mit blühenden Rosen, ein wohlangelegtcs Blumenbeet 
oder ein hoch emporsteigender Springquell, schön die Gruppe von Obst¬ 
bäumen, wenn sie in der vollen Blüte des Frühlings prangt oder sich 
im Herbste mit goldenen Früchten schmückt, und der Lustgarten in der 
Vereinigung aller der mannigfaltigsten Gestalten, in welcher sich der Geist 
des Menschen offenbart. Die menschliche Kultur verschafft uns dazu den 
erfreuenden Anblick einer Menge schöner Naturgebilde, welche wir ohne 
sie niemals in unserer Heimat sehen würden, an denen wir aber nun 
Auge und Herz laben können. Gewiß sähen wir ohne die Kultur mehr 
malerisch schöne Eichen und Buchen, als unsere Gegend sie jetzt zeigt, 
aber wir würden nicht die Akazie und die Platane sehen, nicht so viele 
der blühenden Stauden und Gebüsche, nicht den Pfirsich- und Aprikosen¬ 
baum, welche jetzt unsere Anlagen und Gärten zieren. Des ganzen großen 
fremden Blumenflors, der uns im Freien und im Zimmer so viel Freude 
verschafft, würden wir entbehren, nicht zu gedenken der Gewächshäuser, die 
uns einen, freilich nur sehr unvollkommenen Begriff von der Pflanzenwelt
	        
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