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Wagen erster und zweiter Klasse, aus denen der Zug bestand, waren
geöffnet und ließen in ihrem matt beleuchteten Innern die wunderlichen
Pelz- und Faltenmassen halb erkennen, welche die Sitze der Nachtschnell-
züge im Winter erfüllen, und aus denen nur hier und da eine rot-
gefrorne Nase oder ein atmender Mund hervorschaut und noch seltener
das verschlafene, um sich blinzelnde Gesicht eines erwachenden, verdrossenen
Fahrgastes sich erhebt, der im Zweifel, ob er sich in Prag, Dresden oder
Hannover befinde, den Schaffner nach Zeit, Ort und dem Grunde fragt,
warum so lange gehalten werde. Nur wenige Reisende hatten am Ort
den Zug verlassen, noch weniger waren dazugekommen; nur hier und da
schob sich eine dunkle, dick vermummte Gestalt mühsam durch die Wagen¬
thür, während die Handkarrren mit nervenerschütterudcnl Rollen dahin¬
fuhren, Packer, Packmeister und Postschaffner mit einförmiger Regelmäßig¬
keit sich Gepäck- und Poststücke zuzählten und die Wagenrevisoren sorgsam
mit Laterne und Hammer an den Wagcngestellen hinkrochcn, jede Achse,
jedes Rad, jede Feder beleuchteten, oder niit dröhnendem Hammerschlag
prüften; denn nur ein sorgfältig nachgesehener Schnellzug darf seinen
Lauf fortsetzen.
„Wer fährt den Nachtschnellzug?" fragt der Inspektor, der am Zuge
entlang schreitet, indem sich soeben die hochbeinige Schnellzugmaschine
zischend uich mit glühendrot aus der geöffneten Feuerthür angestrahltem
Dampfe ohne Anstoß geschickt an den Zug legt. „Der alte Zimmer¬
mann," tönt die Antwort zurück, und zugleich drängt sich eine kurze,
dick in einen Lederpclz gehüllte Gestalt zwischen dem Geländer der Ma¬
schine und dem Tender hervor und grüßt den Inspektor. Der alte
Zimmermann ist ein Mann im Lebensalter der höchsten Mannesrüstigkeit,
aber ein alter Lokomotivführer; denn während eines Vierteljahrhunderts
auf der rüttelnden, tobenden Maschine stehen und in Wetter und Sturm.
Hitze und Kälte und Regen einen Weg zurücklegen, der zwanzigmal um
den Erdball reicht, das ist eine Arbeit, die schneller zum Greise macht,
als mit der Feder hinterm Ohr am warmen Ofen Akten lesen.
Zimmermann hebt bei den schwankenden, matrosenartig breitspurigen
Schritten, mit denen er herankommt, beschwerlich die vom Stehen auf
der dröhnenden Maschine schwach gewordenen Beine, die in dicken Filz¬
stiefeln stecken. Er hat die Pelzmütze tief über die Ohren gezogen und
ein Tuch um Genick und Hals gewunden. Ans den unbehülflichen Hüllen
schaut ein kleiner Teil eines gutmütigen, muntern, von der Kälte dunkel
geröteten Gesichts.
„In fünf Minuten sind wir fertig, wie stcht's bei Ihnen, Zimmer-
mann?" fragte der Inspektor. „Verdammt kalt, Herr! fünfzehn Grad
schlecht gemessen," entgegnete dieser, „hab' mein Direktions-Warmbier
schon im Leibe; meine Luise bringt mir aber noch einen Kaffee mit Rum,
den triitF_ ich, während ich meinen Greif noch einmal revidiere; Teufel!
gegen diesen Nordostwind wird heute der Schnee stechen, als würde man
mit Schuhzwecken aus Blaseröhren beschossen! Da ist die Luise schon!"
~~ Ein kleines Weib, dick beschneit, läuft in der That mit einem Hand¬
korbe eilends über den Bahnsteig, knixt vor dem Inspektor und packt dann,
eilends mit dem Lokomotivführer nach der Maschine schreitend, den