Full text: [2 = Ober-Tertia, [Schülerband]] (2 = Ober-Tertia, [Schülerband])

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42. Deiche und Marschen. 
Wo immer der Mensch sich angebaut hat, mag es nun sein hoch oben 
in der Nachbarschaft des ewigen Schnees oder tief unten im Angesicht der 
tückischen See, überall muß er Kämpfe bestehen, von denen der ungefährdete 
Bewohner des Binnenlandes selten eine Vorstellung hat. Dort droht der 
stürzende Fels und die donnernde Lawine, hier die züngelnde, zischende, 
nimmer müde und nimmer satte Woge. Suchen wir einmal jene Niederungen auf, 
die sich der Mensch aus ödem Gestade zu blühenden Fluren umgewandelt hat. 
Das geringe Gefälle der deutschen Nordseeküste gestattet dem Meere, 
zur Zeit der Flut tief ins Land zu dringen, während die Ebbe weite Strecken 
des eben erst von der Salzflut bedeckten Bodens wieder bloßlegt. Diese 
schlammbedeckten, öden Strecken gewähren dem Strandbewohner nur ge¬ 
ringe Ausbeute an zurückgebliebenen Muscheln, Fischen und anderen Seetieren. 
Wenn dieses Gestade zu Wiesen oder gar zu Weizenfeldern könnte 
umgeschaffen werden, welch reicher Segen sollte sich da entfalten! Wer aber 
wollte es wagen, dem Meere, jenem Riesen, der drei Viertel der Erdober¬ 
fläche beherrscht, dieses Gestade streitig zu machen? 
Ein Geschlecht der Zwerge, der Mensch wagt es, und was Zähigkeit 
und Ausdauer endlich vermögen, das nehmen wir kaum irgendwo so augen¬ 
fällig wahr als dort, wo die endlosen Schutzbauten den ewig anstürmenden 
Meereswogen still und beharrlich die Stirne bieten. 
Unsere Wanderung der deutschen Nordseeküste entgegen führt zuerst 
durch Ländereien, die nicht selten ärmlichen Pflanzenwuchs auf kargem Boden 
zeigen. Hier ist es Sand, der den Wurzeln nur magere Kost gewährt; 
dort breitet sich Geestland aus, in welchem dem Sande schon nährende 
Stoffe in größerer Menge beigemischt sind. 
Nun aber verlassen wir diesen Boden und betreten das eigentliche 
Marschland. Welche Wandlung erfährt plötzlich unsere Umgebung! Der 
Maler wäre kaum davon erbaut, denn was er sucht, findet er hier nur 
selten. Vielleicht erfreute ihn noch kurz vorher im Geestland eine kleine 
Erhebung mit Laub- oder Nadelholz, die ihm sein Skizzenbuch bereicherte. 
Vielleicht fesselte sein kunstverständiges Auge ein Fels, dessen ernste Stirne aus 
buschigem Grün hervorlugte und angenehme Farben trug. Nun ist von alle 
dem nichts mehr zu schauen. Umsomehr aber fühlt sich der Wanderer 
befriedigt, der seine Freude in der Wohlfahrt seiner Mitmenschen sucht. 
Flach und ohne jede Erhebung, wie der Boden der Tenne, liegt das 
Land vor uns; aber es trägt ein lückenloses Gewand von prangenden Feldern 
und saftig grünen Wiesen. Keine Sandfläche, kein Felsgestein, kein wildes 
Gebüsch, das sich selbst gepflanzt hätte, unterbricht den Nutzboden. Was 
nicht die Land- und Wasserstraßen hinwegnehmen, das ist sorgfältig an¬ 
gebaut und lohnt reichlich den Schweiß des Landmanns. Ist das nicht
	        
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