Full text: [Abtheilung 2 = (Quarta, Tertia), [Schülerband]] (Abtheilung 2 = (Quarta, Tertia), [Schülerband])

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2. Der abgewiesene Wolf kam zu dem zweiten Schäfer. „Du 
weißt, Schäfer,“ war seine Anrede, „daß ich dir das Jahr durch 
manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt jedes Jahr 
sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst alsdann sicher 
schlafen und die Hunde ohne Bedenken abschaffen.“ „Sechs Schafe?“ 
sprach der Schäfer; „das ist ja eine ganze Herde.“ „Nun, weil du 
es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen,“ sagte der Wolf. „Du 
scherzest. Fünf Schafe? Mehr als fünf opfere ich kaum im ganzen 
Jahre dem Pan.“ „Auch nicht viere?“ fragte der Wolf weiter; und 
der Schäfer schüttelte spöttisch den Kopf. „Drei? — Zwei?“ — 
„Nicht ein einziges!“ fiel endlich der Bescheid. „Denn es wäre ja 
wohl thöricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor welchem 
ich mich durch meine Wachsamkeit schützen kann!“ 
3. Aller guten Dinge sind drei! dachte der Wolf und kam zu 
einem dritten Schäfer. „Es geht mir recht nahe,“ sprach er, „daß 
ich unter euch Schäfern als das grausamste, gewissenloseste Thier 
verschrieen bin. Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man 
mir thut. Gib mir jährlich ein Schaf, so soll deine Herde in jenem 
Walde, den niemand unsicher macht als ich, frei und ungeschädigt 
weiden dürfen. Ein Schaf! Welche Kleinigkeit! Könnte ich groß— 
müthiger, könnte ich uneigennütziger handeln? — Du lachst, Schäfer? 
Worüber lachst du denn?“ „O, über nichts! Aber wie alt bist du, 
guter Freund?“ sprach der Schäfer. „Was geht dich mein Alter an? 
Immer noch jung genug, dir deine liebsten Lämmer zu würgen?“ 
„Erzürne dich nicht, alter Isegrim. Es thut mir leid, daß du mit 
deinem Vorschlage einige Jahre zu spät kommst. Deine ausgebissenen 
Zähne verrathen dich. Du spielst den Uneigennützigen, bloß um dich 
desto gemächlicher, mit desto weniger Gefahr nähren zu können.“ 
4. Der Wolf ward ärgerlich, faßte sich aber doch und ging zu 
dem vierten Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben 
und der Wolf machte sich diesen Umstand zu Nutze. „Schäfer,“ sprach 
er, „ich habe mich mit meinen Brüdern im Walde veruneiniget, und 
so, daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde. 
Du weißt, wie viel du von ihnen zu fürchten hast! Wenn du mich 
aber anstatt deines verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so 
stehe ich dir dafür, daß sie keines deiner Schafe auch nur schel an—
	        
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