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Zweiter Zeitraum: 1648—1789.
und Wissenschaft begünstigt und befördert, welche zu ihrer Blüte der Freiheit
und der Begeisterung für Wahrheit nicht bedarf und gleichwohl dem Glanze
der Vornehmen und der Eitelkeit der Reichen vortrefflich dient. Während in
Frankreich und bald in Europa, wo man den französischen Ton nachäffte,
die höheren und mittleren Klassen sich weiter von aller gemüthlichen Volks¬
bildung entfernten, und ganz neue Ansprüche begründeten, ward in dem Ton
und in der Modelectüre derselben Klassen nach und nach ein radical-revolu-
tionärer und sogar ein demokratischer Geist herrschend. Schon unter Lud¬
wig XIV. bereiteten Bayle und eine Gesellschaft Pariser Spötter, unter
denen Voltaire schon als Knabe glänzte, die Revolution vor, die unter der
Regentschaft erfolgte. Die Kühnheit des Gedankens, die Genialität bei der
Betrachtung göttlicher und menschlicher Dinge, welche Jeder, der etwas gelten
wollte, haben oder affectiven mußte, erschütterte die Grundfesten der euro¬
päischen Staaten, so weit sie auf christlich-monarchischen oder aristokratisch¬
hierarchischen Grundlagen gebaut waren.
In der zweiten Periode ward vollendet, was in der ersten begonnen
war. Die Gewalt sollte überall den Staat erhalten und die Regierenden
scheuten sich nicht, der Sittlichkeit und dem Rechte Verschlagenheit und Ver¬
dorbenheit, wenn sie ihren Zwecken dienten, öffentlich vorzuziehen. Die neue
Dynastie in England wie der Regent und fein Dubois in Frankreich ver¬
schmähten kein unmoralisches Mittel, das ihnen nützlich sein konnte, und
rühmten dieses Verfahren als echte Staatsweisheit. Ein einziger Regent des
Jahrhunderts (Friedrich II.) huldigte schon als Jüngling ber neuen Lehre vom
Fortschreiten, von schnellerjMwicfelung, von Aufklärung, als ber Morgenröthe
eines Tages ganz veränberter Sitten. Er stellte sich an bie Spitze ber in
Frankreich ber Regierung unb bet Geistlichkeit furchtbaren Opposition unb
ward von der alten Partei als Antichrist gehaßt, von der neuen als Messias
begrüßt. Sein Ruhm und feine Popularität beweisen hinreichend, daß es
unmöglich warb, das System des Mittelalters äußerlich. aufrecht zu erhal¬
ten, sobald der Geist desselben entwichen war, daß daher die Regierungen
Eutopa's nur der Nothwendigkeit folgten, wenn sie Friebrich zum Muster
nahmen. Frankreich allein konnte und wollte lange seinem bisherigen System
nicht untreu werden und entschloß sich erst dazu, als es zu spät war. Gerade
in dieser Periode ward Paris, was einst Italien gewesen war, die Schule von
ganz Europa, ber Hof in Versailles verlor seine Bebeutung unb bie Eirkel
ber Hauptstabt unb mit ihnen bie Ptebiget ber neuen Weisheit würben
Lehrer aller höheren Bilbung in Europa.
In ber britten Periobe siegte überall bie neue Lehre vom Fortschreiten
mit ber Zeit, von ber Verbesserung bes Zustanbes aller Klaffen, auch ber
Gefangenen unb ber Verbrecher, unb selbst in Deutschland wo bas Regiment
des Mittelalters durch Gemüthlichkeit des Volkes, durch bie Form bes Staates,
burch bie protestantische Orthodoxie unb bie katholische Hierarchie aufrecht