274
Briefe.
127. Brief von Matthias Claudius an feinen Sohn Johannes.
Lieber Johannes!
Die Zeit kommt allgemach heran, daß ich den Weg gehen muß, den
man nicht wiederkommt. Ich kann Dich nicht mitnehmen und lasse Dich
in einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist.
5 Es ist nicht alles Gold, lieber Sohn, was glänzet, und ich habe manchen
Stern vom Himmel fallen und manchen Stab, woraus man sich verließ,
brechen sehen. Darum will ich Dir einigen Rat geben und Dir sagen, was
ich gefunden habe und was die Zeit mich gelehret hat.
Es ist nichts groß, was nicht gut ist, und nichts wahr, was nicht besteht.
10 Der Mensch ist hier nicht zu Hause uud geht hier nicht von ungefähr
in dem schlechten Nocke umher. Und es ist nicht für ihn gleichgültig, ob er
rechts oder links gehe.
Laß Dir nicht weismachen, daß er sich raten könne und selbst seinen
Weg wisse!
15 Halte Dich zu gut, Böses zu tun!
Hänge Dein Herz an kein vergänglich Ding!
Was Du sehen kannst, das siehe, und brauche Deine Augen, und über
das Unsichtbare und Ewige halte Dich an Gottes Wort!
Scheue niemand so viel wie Dich selbst! — Inwendig in uns wohnt
20 der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr gelegen ist
als an dem Beifall der ganzen Welt und der Weisheit der Griechen und
Ägypter. Nimm es Dir vor, mein Sohn, nicht wider seine Stimme zu tun,
und was Du findest und vorhast, schlage zuvor an Deine Stirn und frage
ihn um Rat! Er spricht anfaugs nur leise und stammelt wie ein uuschuldig
25 Kind; doch wenn Du seine Unschuld ehrst, löset er gemach seine Zunge und
wird Dir vernehmlicher sprechen.
Lerne gern von andern, und wo von Weisheit, Menschenglück, Licht,
Freiheit, Tugend usw. geredet wird, da höre fleißig zu! Doch traue nicht
flugs und allerdings! denn die Wolken haben nicht alle Wasser, und es
30 gibt mancherlei Weise. Sie meinen auch, daß sie die Sachen hätten, wenn
sie davon reden können und davon reden. Man hat darum die Sache nicht,
daß man davon reden kann und davon redet. Worte sind nur Worte, und
wo sie so gar leicht und behende dahinfahren, da sei auf Deiner Hut! Denn
die Pferde, die den Wagen mit Gütern hinter sich haben, gehen langsamen
35 Schrittes.