VI. Ulis der deutschen Litteratur: Briefe.
85* Goethe und Herder in Ztraßburg.
Das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich
haben sollte, war die Bekanntschaft und die daran sich knüpfende
nähere Verbindung mit Herder. Er hatte beit Prinzen von Holstein-
Eutin , der sich in traurigen Gemütszuständen befand, auf Reisen
begleitet und war mit ihm bis Straßburg gekommen. Unsere
Societät, sobald sie seine Gegenwart vernahm, trug ein großes Ver¬
langen, sich ihm zu nähern, und mir begegnete dies Glück zuerst ganz
unvermutet und zufällig. Ich war nämlich in den Gasthof „Zum
Geist" gegangen, ich weiß nicht, welch bedeutenden Fremden auf-
zusuchen. Gleich unten an der Treppe fand ich einen Mann, der
eben auch hinaufzusteigen im Begriff war, und den ich für einen
Geistlichen halten konnte. Sein gepudertes Haar war in eine runde
Locke aufgesteckt, das schwarze Kleid bezeichnete ihn gleichfalls, mehr
noch aber ein langer, schwarzer seidener Mantel, dessen Ende er zu¬
sammengenommen und in die Tasche gesteckt hatte. Dieses einiger-
maßen auffallende, aber doch im ganzen galante und gefällige Wesen,
wovon ich schon hatte sprechen hören, ließ mich keineswegs zweifeln,
daß er der berühmte Ankömmling sei, und meine Anrede mußte ihn
sogleich überzeugen, daß ich ihn kenne. Er fragte nach meinem
Namen, der ihm von keiner Bedeutung sein konnte; allein meine
Offenheit schien ihm zu gefallen, indem er sie mit großer Freundlich¬
keit erwiderte, und als wir die Treppe hinaufstiegen, sich sogleich zu
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