Full text: [Teil 4 = Siebentes (und achtes) Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 4 = Siebentes (und achtes) Schuljahr, [Schülerband])

Heinrich Voß der Jüngere an Christian Niemeyer. 
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in die Felsensteine geträumt. Auch die leblose Natur ist von der Glut 
seiner Liebe durchdrungen. Deutschland bejammerte den Mann, und 
wenige haben ihn gesehen, noch wenigere gekannt. Es würde des 
Grams kein Ende gewesen sein, wenn ihn seine Verehrer persönlich 
gekannt hätten und, statt durch seine Gedichte mittelbar, durch sein 
Herz unmittelbar wären begeistert worden. 
Habe ich nicht recht gethan, daß ich meinen: I. . . den Othello 
dediciere? Er war es, der mir zuerst Liebe für Schiller einflößte: 
denn I... war sein Zuhörer gewesen. „An dem Manne ist alles 
liebenswürdig; selbst sein Schnupftabaksfleckchen unter der Nase kleidet 
ihn hold," pflegte I . . . zu sagen. Und es ist wahr, Schiller hatte 
vom beständigen Schnupftabaksgebrauch eiu solches perpetuierliches 
Fleckchen. — Es ist Abend geworden, herzlieber Freund, und wie ich 
in der Dämmerung in meinen: Zimmer auf- und abgehe, fällt mir 
noch so manches ein, was ich nicht umhin kann, Dir mitzuteilen. Du 
Guter, wirst wohl ebensowenig müde, von Schiller was zu hören, als 
ich, von ihn: zu erzählen. 
Am Morgen des letzten Neujahrstages, den Schiller erlebte, 
schreibt Goethe ihm ein Gratulationsbillet. Als er es aber durchlieft, 
findet er, daß er darin unwillkürlich geschrieben hatte: „der letzte 
Neujahrstag", statt „erneute" oder „wiedergekehrte" oder dergleichen. 
Voll Schrecken zerreißt er's und beginnt ein neues. Als er an die 
ominöse Zeile ko:nmt, kann er sich wiederum nur mit Mühe zurück¬ 
halten, etwas von: „letzten" Neujahrstage zu schreiben. So drängte 
ihn die Ahnung! — — Denselben Tag besucht er die Frau voi: 
Stein, erzählt ihr, was ihm begegnet sei, und äußert, es ahne ihm, 
daß entweder er oder Schiller in diesem Jahre scheiden werde. Und 
:vie wahr er geahnet, hat die traurige Erfahrung bewährt! — Wenige 
Wochen nachher lagen beide krank danieder und konnten sich weder 
sehen noch schreiben. Schiller war der erste, der sich erholte, und 
kaum konnte er wieder ausgehen, so besuchte er seinen lieben Goethe, 
nachdem er sich durch :uich hatte aniuelden lassen. Ich war bei diesem 
Wiedersehen zugegen, und es rührt mich noch jedesmal, wenn ich 
daran denke. Sie fielen sich um den Hals und küßten sich in einen: 
langen, herzlichen Kusse, ehe einer von ihnen ein Wort hervorbrachte. 
Keiner voi: ihnen erwähnte weder seiner, noch des andern Krankheit, 
sondern beide genossen der ungemischten Freude, wieder mit heiterem 
Geiste vereint zu sein. 
Ji: der letzten Krankheit Schillers war Goethe ungemein nieder¬
	        
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