Full text: [Teil 4 = Siebentes (und achtes) Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 4 = Siebentes (und achtes) Schuljahr, [Schülerband])

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I. Erzählungen. 
herrlich gebaute Violine, besah sie noch einmal nach allen Seiten 
und sagte dann: „Alle Töne, die in dir sind, sollen schlafen und 
schlummern, aber an einem Weihnachtsheiligabend sollen sie einmal 
geweckt werden, und dann werden sie dem Besitzer großes Glück 
bringen." Bald darauf entschlief der Meister, aber die Seinen 
zeichneten diese letzten Worte auf, und der Zettel wurde an der 
Violine angebracht. So ging sie in der Familie von Hand zu Hand, 
aber ihre Töne waren hart und herb; so viele Meister sie in der 
Hand hatten, jeder legte sie wieder weg und sagte: „Das ist sein 
Lebtage keine Amati." So kam die Geige an einen armen Nach¬ 
kommen, der mit einer wandernden Bande nach Deutschland zog. 
Er war schon ein alter Mann, den sein einziges Kind, ein Mädchen 
von zwanzig Jahren, begleitete; er hatte sie nicht zurücklassen wollen, 
als die Mutter starb. In einer Stadt des Nordens erkrankte der 
alte Geiger schwer, die Bande zog weiter und ließ ihn zurück. 
Das Ersparte ging nach und nach darauf, der Mann stand von der 
Krankheit wohl aus, aber er blieb seelengestört und halb wirr. 
Sein einziger lichter Gedanke mar, daß einmal noch die Töne aus 
seiner Amatigeige frei würden. Drum konnte er sick von ihr nicht 
trennen, wiewohl ihm der Hunger oft bis an die Seele ging, und 
die Violine noch das einzige Stück zum Verkaufen war. Aber 
der Gedanke, daß dann bei einem anderen als ihm die Töne frei 
werden könnten, ließ ihn lieber das Ärgste ertragen. „Ich werde 
euch dreißig Thaler geben für das schlechte Instrument, weil ihr 
es seid, Giovanni," sagte ein Händler zu ihm im Anfang des 
Dezember. Aber jetzt, wo wieder ein Weihnachtsheiligabend 
nahte — nein, das konnte er nicht. Jedesmal klopfte ihm das 
Herz, wenn's der Weihnacht zuging, ob nicht an dieser das Testa¬ 
ment erfüllt würde. So kam diese Weihnacht heran. Das Mädchen 
saß und stickte sich bei der trüben Öllampe die Augen fast aus, 
um nur die paar Kohlen zu verdienen, die den Ofen heizten und 
das spärliche Mittagsbrot ermöglichten. Draußen stürmte es, und 
die Schneeflocken jagten herunter. Da nahm der Alte seine Geige. 
„Ihr wollt doch nicht fort bei diesem Wetter, Vater? Es ist 
ja so bitterkalt, und ihr habt keinen Mantel!" sagte die Tochter. 
„Du weißt, es ist Weihnachtsheiligabend. Heute oder nie muß 
die Violine die Töne hergeben. Du weißt, daß unsere Not aufs 
höchste gestiegen ist. Ich kann nicht mehr zusehen, wie du deine 
schönen Augen verdirbst, Anrella. Noch einmal lasse mich's ver¬
	        
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