A. Prosa.
Deirtfrhe Scr^en.
1. Die Nibelungen,
a) Kriemhild und Siegfried.
Im Burgundenlande auf der alten Königsburg, zu Worms au dem
Rheine, wuchs eine edle Königstochter, Namens Kriemhild, zur herr¬
lichsten Jungfrau heran, voll Liebreiz und Anmut. Nach dem frühen
Tode ihres Vaters Dankrat hatten sie ihre drei Brüder in ihrer Obhut,
die Könige Günther, Gernot und Giselher, welche stark und hohen Mutes
waren, und denen die besten Recken dienten. Die vornehmsten unter
ihnen waren der grimme Hagen von Tronje, ein Verwandter des
Königshauses, sowie sein Bruder, der Markgraf Dankwart, und ihr
Neffe, der Truchseß Ortwin von Metz, die beiden Markgrafen Gere und
Eckewart, der Spielmann Volker von Alzei, Rumolt der Küchenmeister,
Sindolt der Mundschenk und Hunolt der Kämmerer. An einem so
mächtigen Königshofe verlebte, der edlen Zucht und Sitte ihrer Zeit
gemäß, Kriemhild ihre Kindheit und erste Jugend in stiller Abgeschie¬
denheit unter der Leitung ihrer Mutter Ute.
Einst träumte ihr, sie zöge einen Falken auf und pflegte ihn als
ihren Schützling manchen Tag, — da stürzen zwei Adler herab und
erdrücken mit ihren grimmigen Klauen das zarte Tier vor ihren Augen.
Schmerzlich bewegt erzählt die erwachende Kriemhild den Traum der
lieben Mutter. Diese deutet: „Der Falke ist ein edler Mann, für
welchen du bestimmt bist; Gott wolle ihn behüten, daß du nicht früh
ihn verlierst." Kriemhild aber wollte nichts von der Liebe eines Mannes
wissen. „Es haben schon manche Frauen erfahren, sagte sie, wie Lust
am Ende mit Leid belohnt wird; darum will ich beides meiden, so wird
es mir nie übel ergehen."
Dennoch war dieser Traum das erste leise Gewölk, das kaum die
Sturmnacht ahnen ließ, welche den Himmel ihres Lebens und ihrer
Liebe trüben sollte.
Lesebuch für höhere Lehranstalten, in.
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