Full text: [Teil 3 = Quarta, [Schülerband]] (Teil 3 = Quarta, [Schülerband])

A. Prosa. 
Deirtfrhe Scr^en. 
1. Die Nibelungen, 
a) Kriemhild und Siegfried. 
Im Burgundenlande auf der alten Königsburg, zu Worms au dem 
Rheine, wuchs eine edle Königstochter, Namens Kriemhild, zur herr¬ 
lichsten Jungfrau heran, voll Liebreiz und Anmut. Nach dem frühen 
Tode ihres Vaters Dankrat hatten sie ihre drei Brüder in ihrer Obhut, 
die Könige Günther, Gernot und Giselher, welche stark und hohen Mutes 
waren, und denen die besten Recken dienten. Die vornehmsten unter 
ihnen waren der grimme Hagen von Tronje, ein Verwandter des 
Königshauses, sowie sein Bruder, der Markgraf Dankwart, und ihr 
Neffe, der Truchseß Ortwin von Metz, die beiden Markgrafen Gere und 
Eckewart, der Spielmann Volker von Alzei, Rumolt der Küchenmeister, 
Sindolt der Mundschenk und Hunolt der Kämmerer. An einem so 
mächtigen Königshofe verlebte, der edlen Zucht und Sitte ihrer Zeit 
gemäß, Kriemhild ihre Kindheit und erste Jugend in stiller Abgeschie¬ 
denheit unter der Leitung ihrer Mutter Ute. 
Einst träumte ihr, sie zöge einen Falken auf und pflegte ihn als 
ihren Schützling manchen Tag, — da stürzen zwei Adler herab und 
erdrücken mit ihren grimmigen Klauen das zarte Tier vor ihren Augen. 
Schmerzlich bewegt erzählt die erwachende Kriemhild den Traum der 
lieben Mutter. Diese deutet: „Der Falke ist ein edler Mann, für 
welchen du bestimmt bist; Gott wolle ihn behüten, daß du nicht früh 
ihn verlierst." Kriemhild aber wollte nichts von der Liebe eines Mannes 
wissen. „Es haben schon manche Frauen erfahren, sagte sie, wie Lust 
am Ende mit Leid belohnt wird; darum will ich beides meiden, so wird 
es mir nie übel ergehen." 
Dennoch war dieser Traum das erste leise Gewölk, das kaum die 
Sturmnacht ahnen ließ, welche den Himmel ihres Lebens und ihrer 
Liebe trüben sollte. 
Lesebuch für höhere Lehranstalten, in. 
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