A. Prosa.
Denutsche Sagen.
1. Gudrun.
a) Wie Gudrun sich mit Herwig verlobte.
In uralten heidnischen Zeiten herrschte über die Friesen, die den
langen Festlandssaum und die Inseln der Nordsee bewohnten, der reiche
und mächtige König Hettel. Seine Gemahlin war die schöne Hilde, die
Tochter des starken Königs Hagen von Irland. Viele Helden waren ihm
unterthan, aber unter allen ragte hervor der riesige Wate, der bei den
Dietmarsen und den Stormarn im Namen Hettels gebot; nächst ihm
waren die mächtigsten der Mannen der sangeskundige König Horand von
Dänemark und dessen Vetter, der listige Frute Auch Morung von Nif—
land und Irolt von Ortland leisteten dem Friesenkönige Heeresfolge Wenn
Hettel also seine Boten sandte und zum Streite rief, dann sammelten
sich von fern und nah seine Helden, und es wimmelte am Strande der
Nordsee von buntbemalten Barken, und stolz prangten die Banner der
kühnen Seefahrer. Aber Hettel war auch ein milder König, und gern
bewirtete er von seinem Reichtum die treuen Mannen; oft berief er sie
zu fröhlichen Festen, und dann erklang in der hohen Burg die Harfe
des Dänenkönigs Horand, und die schöne Hilde lauschte gern seinem
wundervollen Sange, oder sie lachte heiter ob der Späße des alten Wate,
der ebenso launig im Verkehr mit den Mannen wie grimmig im Kampfe
mit den Feinden war.
Zwei herrliche Kinder waren dem Königspaare erwachsen. Das ältere
war Gudrun, die durch ihre edeln Züge und ihre hohe Gestalt das Ebenbild
ihrer Mutter war. Wie ein taufrischer Frühlingsmorgen lag die Anmut
der Jugend auf den Wangen und Lippen des lieblichen Kindes, das gold—
gelbe Haar und die blauen Augen waren ihr Erbteil vom Vater. Wenn
sie mit feuchtem Blicke und halbgeöffnetem Munde vornübergebeugt dem
Sange ihres Oheims Horand horchte, dann mochte man ahnen, welch ein
Gemüt in den Tiefen ihrer Seele lag; wenn sie aber mit dem wunder—
lichen greisen Wate scherzte und Kurzweil trieb, dann blitzte ihr Kraft
und schalkhafter Übermut aus dem Auge, und jeder erkannte sogleich,
Lesebuch für höhere Lehranstalten. IV. 1