96. Der Wald im Herbste.
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96. Der Wald im Herbste.
O du schönes Waldleben zur Zeit des reichen Frühlings und heißen Som¬
mers! Schade, daß du so schnell ein Ende nehmen mußt! Bald unterbrechen
recht finstere Tage die fröhliche Waldlust; eine schwere, trübe, dunstige Luft hängt
über den Bäumen; traurig senken sich die grünen Blättchen und klagende Töne
irren hin und her. Der Herbst klopft mit stürmischer Hand an die Pforte des
Waldes, und seine rauhen Winde verjagen die sanften Sommerlüfte, streifen das
irische Grün von den Blättern und lösen eines nach dem andern von den schlan¬
ken Zweigen, daß sie klagend und rauschend, mit dem sterbenden Rot geschmückt,
dahinflattern und verwehen im weiten, leeren Raume. Die Sänger des Waldes
schicken sich an zu ihren Reisen nach fernen Ländern. „Kommt mit uns!" rufen
sie den Blumen zu, „was wollt ihr noch länger weilen in dem öden Wald?"
Und da verläßt ein Blumenelfchen nach dem andern sein buntes Häuschen, das
der Herbstwind rüttelt, bis es zusammenfällt und mit bleichen Blättern die Stelle
bedeckt, wo es geblühet hat.
Das süße Dornröschen ist schon lange mit den letzten Nachtigallentönen ent¬
schwebt; die leichten, bunten Geißblattranken flattern mit den lustigen Finken da¬
von, und das Helle, freundliche Rotkehlchen nimmt die bleiche, schwermütige
Anemone mit sich nach wärmeren Zonen und milderen Lüften. Die Glockenblume
aber schwingt ihr feines Teilchen und läßt zum letztenmal ihr frommes Glöck¬
chen durch den Wald erklingen und rufen: „Lebe wohl, lebe wohl, du schöner
Wald! Wie bald, wie bald entflieht die Freud' und kommt das Leid und naht
des Herbstes trübe Zeit! Der Herbst, der Herbst ist rauh und kalt! Lebe wohl,
lebe wohl, du schöner Wald!" — „Vergiß mein nicht! Vergiß mein nicht!" haucht
es aus dem süßen, blauen Blümchen, das am Bache blühte, und der holde
Blumenengel, der es bewohnte, fliegt mit dem letzten Lerchenliede aus den lichten
Wolken des klaren Herbsthimmels hinaus. An die Stelle aller dieser lieben
Blumen treten die wunderlichen Gesellen, die Pilze. Sie haben sich gar lustig
schillernde Mäntelchen umgehängt, rote und gelbe und buntgefleckte, sind aber
trotzdem der großen Mehrzahl nach nichtsnutzige Gesellen, welche mit ihren faulen
Dünsten die reine Luft des Waldes vergiften.
Stürmischer wird der Wind, schon decken kalte Schneeflocken zuweilen den
Boden; der Winter zieht mit starker Macht heran, den letzten Kampf mit seinem
Feinde, dem Sommer auszufechten. Im wilden Streite schlagen die Äste knar¬
rend zusammen, aus den finstern Felsenschluchten stürzen die Wildbäche brausend
hervor, der Regen strömt, die ganze Gegend ächzt, der Sommer unterliegt. Im
Walde zieht siegreich der Winter ein und krönt mit einem Diadem von glänzen¬
den Eiszapfen den Tannenbaum zum Herrn und König des Waldes.
H. Srahl.
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Äuras ri. VnerUch, Deutsches Lesebuch II, t. 7. Aust.