Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

140. Der Harz. 
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Majestät schaurig daliegen, im Hindernis einen Sporn findet, mit dem weithin 
klingenden Schellengeläute fliegender Schlitten die öde Wildnis belebt und Ort 
mit Ort, Freund mit Freund zu fröhlichen Festabenden verknüpft. Welche 
Mannigfaltigkeit von Genüssen und Ergötzlichkeiten eine Wanderung durch solche 
Gegenden für jedes Gemüt, das die notwendige Empfänglichkeit mitbringt, 
darbeut, läßt sich schon aus dem Gesagten abnehmen. Jeder Geschmack wird 
nicht leer ausgehen. Der Freund des Finstern, Gewaltigen und Erschütternden 
wird sich plötzlich von himmelansteigenden Zackenfelsen umringt schauen, die aus 
ihn niederzustürzen dräuen, die ihm den Ausgang zauberisch zu verbauen 
scheinen, und aus deren gähnenden Spalten ihn alle jene mißgeformten Spuk¬ 
gestalten ansehen, welche aus den Märchen der Kinderwärterin in seinem 
Gedächtnisse geblieben. Er schlürft mit kindlicher Lust alle diese Grauen des 
Geisterkessels ein, erklettert im Rausche des Hexentrankes die Spitzen der Masten 
dieses verwünschten Steinschiffes, und schleicht, sich nur schwer losreißend, endlich 
weiter. Aus einem schlichten, einförmigen und einfarbigen Laubhölzchen er¬ 
mattet eine Höhe hinansteigend, glaubt er jetzt sich plötzlich in ein Reich der 
Vernichtung versetzt, und der letzte Tag der Erde steht vor seiner Phantasie, 
wenn er sich am Rande eines erstorbenen, abgenabelten, ausgedörrten Fichten¬ 
waldes findet, dem der verheerende Borkenkäfer und Holzwurm Saft und 
Mark geraubt. Es ist ein Siechhaus, ein Kirchhof der Natur, und der er¬ 
schütterte Wanderer wendet das Auge ab; da fesselt seinen Blick noch höher 
hinauf ein nicht geringeres Schauerbild. Ein unabsehbarer Wald liegt als 
Windbruch gestürzt und nach einem Striche niedergeworfen da, gleich einem 
getöteten Heere des Völkerkrieges; ein einziger Hauch der Allmacht schuf dieses 
undurchdringliche Verhau von Riesentannen, welche aus dem zerrissenen Boden 
ihre Wurzeln wie trockene Knochen eines Hünengrabes hervorstrecken. Um diesen 
Schauplatz wüster Zerstörung, dieses Schauerbild noch furchtbarer zu machen, 
schnaubt ein ungeheurer, schwarzborstiger Keiler, drohend mit scharfen und 
glänzenden Hauern, an ihm vorüber, die giftige, graue Wolfsotter hebt sich aus 
dürrem Moos und zischt ihn an, ein gieriges Geierpaar kreiset gespenstisch 
rauschend mit weitgespannten Flügeln über seinem Haupte, und der Wolken¬ 
segler abgestoßenes, weithin gellendes Gekreisch spricht ihm deutlich die feind¬ 
liche Absicht aus, den unberufenen Eindränger zu vertreiben. 
Nicht weniger angesprochen wird sich die mildere Seele finden, welche sich 
gern von sanfteren, kindlicheren Empfindungen wiegen läßt. Für sie sind jene 
Thäler geschaffen, deren unzählige der Harz umschließt, und welche als erste 
Gedanken den Ausruf erzeugen: „Hier laßt uns Hütten bauen!" — Ich kenne 
ein solches, das mir unvergeßlich geblieben. Von rauher, kahler Höhe steigt 
man zu ihm hinunter, durch ein Gehölz von schlanken Buchen und Erlen 
windet sich der schlangenförmige Fußsteig. Überrascht steht man in der kleinen
	        
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