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18. Vineta.
naht, so kommt das Wasser aus der Luft herab den Pflanzen entgegen; wo
viel Wald und reiches Grün ist, da giebt es Quellen und Bäche, und das
Regengewölk zieht sich am meisten nach der Pflanzenreichen Gegend hin; wo
aber der Mensch in unbedachtsamem Eiser seines Kulturtriebes oder aus Barbarei
die Hügel und Thäler ihrer Wälder und Büsche beraubt hat, da versiegen
Quellen und Bäche, und das Land wird zur dürren Einöde.
So kann sich selbst an der Pflanze, welche, ohne Aug' und Ohr, ohne
jeden erkennenden Sinn für die Mutter, die sich ihr naht, nichts zu thun ver¬
mag, als nur kräftig die Nahrung zu saugen, die sich ihr darbeut, so kann sich
selbst hier die Liebe dieser Mutter nicht verleugnen, jene Fürsorge, die all'
ihrer Geschöpfe gedenkt. Wie der Adler seinen Jungen, so lange sie noch un¬
befiedert und schwach im Neste liegen, die Nahrung herbeiträgt, die sie nicht in
eigener Kraft erfassen können, so sendet er, der allen ihr Wesen gab, seinen
hilflosesten Geschöpfen das, was ihnen not thut zu seiner Zeit.
G. ■£. v. Schubert.
18. Vineta.
An der nordöstlichen Küste der Insel Usedom sieht man häufig bei stillem
Wetter in der See die Trümmer einer alten, großen Stadt. Es hat dort die
einst wohlberühmte Stadt Vineta gelegen, die schon vor tausend und mehr
Jahren wegen ihrer Laster ein schreckliches Ende genommen hat. Sie ist größer
gewesen, als irgend eine andere Stadt in Europa, selbst als die große und
schöne Stadt Konstantinopel, und es haben darin allerlei Völker gewohnt,
Griechen, Slaven, Wenden und Sachsen und noch vielerlei andere Stämme. Sie
hatten dort jedes seine besondere Religion; nur die Sachsen, welche Christen
waren, durften ihr Christentum nicht öffentlich bekennen, denn nur die heidnischen
Götzen genossen einer öffentlichen Verehrung. Ungeachtet ihrer Abgötterei waren
die Bewohner Vinetas aber anfangs ehrbar und züchtig von Sitten, und in
Gastfreundschaft und Höflichkeit gegen Fremde hatten sie ihresgleichen nicht. Sie
trieben einen überaus großen Handel; ihre Läden waren angefüllt mit den sel¬
tensten und kostbarsten Waren, und es kamen Jahr für Jahr Schiffe und
Kaufleute aus allen Gegenden und den entferntesten Enden der Welt dahin.
Deshalb floß denn auch in der Stadt ein über die Maßen großer Reichtum
zusammen, daß man ihn noch kaum unterzubringen wußte. Die Stadtthore
waren aus Erz und Glockengut, die Glocken aber aus Silber, und letzteres
Metall war überhaupt so gemein in der Stadt, daß man es zu den gewöhn¬
lichsten Dingen gebrauchte, und die Kinder auf den Straßen mit harten Thalern
spielten. Durch ihren Reichtum verfielen aber die Bewohner von Vineta in
Üppigkeit und freventlichen Übermut. Dafür traf sie denn der gerechte Zorn
Gottes, und die schwelgerische Stadt wurde urplötzlich von dem Ungestüm des