Full text: Für Klasse 2 (neuntes Schuljahr) und die Obertertia der Studienanstalten (Teil 8, [Schülerband])

nicht wenig bekümmerte. Ich benutzte die Gelegenheit, ihre Gedanken 
und Hoffnungen auf den zu lenken, der vor fast 1900 Jahren einer 
andern Witwe zu Nain so freundlich von ihrem Kummer geholfen und 
ihr den Sohn zurückgegeben hatte. Sie ging gerne darauf ein, kannte 
auch die Geschichte von dem „Herrn Jesus" wohl, der ihr Dorf so 
berühmt gemacht habe. Aus meine Frage, ob sie wohl daran glaube, 
daß Jesus einst den Jüngling erweckt und daß er heute noch helfen 
könnte, gab sie, die Muhammedanerin, die überraschende Antwort: „Wie 
sollte er denn nicht, ist er doch der Sohn des Allerhöchsten und vom 
Allmächtigen selbst hervorgegangen!" Ich begleitete sie hinüber zu dem 
Kranken, der allerdings sehr schwach war. Wir gaben ihm einige Arznei 
und ermahnten die Familie, sich an den großen Arzt zu wenden, der einst 
hier so Großes getan. 
Nach unserem bescheidenen Abendessen zog es uns hinaus, um dem 
heutigen Nain einen nächtlichen Besuch abzustatten. War es nur die 
natürliche Schönheit oder waren es die großen Erinnerungen, die uns 
das Herz so bewegten? Es war, als ob jeder Berg, jedes Tal uns 
eine Botschaft und geheime Kunde aus längst entschwundenen Tagen mit 
dem leisen Nachtwind zuzurauschen hätte. Auf diesen Fluren ist ja Jesu 
Fuß so oft gewandelt, auch auf ihrer Pracht, ihren Blumen, hat sein 
sinnendes Auge so oft geruht, wenn er für seine ihm nachfolgenden 
Jünger die tiefsten Geheimnisse des ewigen Gottesreiches in irdische 
Bildnisse kleidete. Hoch über Nain ragte der dunkle Berg, der Sunem 
vor unseren Augen verbarg, wo Elisa sein Prophetenstübchen hatte und 
den Sohn der Sunamitin auferweckte. Dort zur Rechten sind die Lichter 
von Endor — ein Ort voll trauriger Erinnerungen aus den letzten 
Stunden eines unglücklichen Königs. Hinter unserem Berge liegen im 
Schatten der Nacht die Berge Gilboa, über die Davids Harfe in 
dem Trauergesang über die gefallenen Helden in unnachahmlich rühren¬ 
den, wehklagenden Lauten weinte. Dort im Tal, wenn auch unserem 
forschenden Auge nicht sichtbar, liegt der See Genezareth, an dessen 
Ufern Jesus seine meisten Taten getan hat. Vor uns dehnt sich die 
weite schweigende Ebene Iesreel aus, in der nur da und dort ein 
einsames Beduinenfeuer flackert, während dahinter so ernst der hohe, 
nachtumfangene Tabor steht und halblinks auf den Bergen die Lichter 
der höchsten Häuser von Nazareth schimmern. In weiter Ferne schließt 
der dunkle Streif des Karmel das Nachtgemälde am westlichen Horizonte 
ab. Das war eine Umgebung, die zumal in stiller Nacht wohl geeignet
	        
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