Das taube Mütterlein
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iS Doch sieh' — auch das Mägdlein erkennt ihn nicht,
Die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.
Und weiter geht er die Straß' entlang,
Ein Tränlein hängt ihm an der braunen Wang'!
Da wankt von dem Kirchsteig sein Mütterchen her,
20 „Gott grüß' Euch!" so spricht er und sonst nichts mehr.
Doch sieh' — das Mütterchen schluchzet voll Lust!
„Mein Sohn!" — und sinkt an des Burschen Brust.
Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.
Johann Nepomuk Vogl.
108. Das taube Mütterlein.
1. Wer öffnet leise Schloß und
Tür?
Wer schleicht ins Haus herein?
Es ist der Sohn, der wiederkehrt
Zum tauben Mütterlein.
3. And wie er spricht, so blickt sie
auf
And — wundervoll Geschick —
Sie ist nicht taub dem milden Wort;
Sie hört ihn mit dem Blick!
2. Er tritt herein, sie hört ihn nicht,
Sie saß am Herd und spann;
Da tritt er grüßend vor sie hin
Und spricht sie „Mutter" an.
4. Sie tut die Arme weit ihm auf
And er drückt sich hinein;
Da hörte seines Herzens Schlag
Das taube Mütterlein.
5. And wie sie nun beim Sohne sitzt,
So selig, so verklärt —
Ich wette, daß taub Mütterlein
Die Englein singen hört. Friedrich Halm.
109. Lied der
1. Der Mensch hat nichts so eigen,
So wohl steht ihm nichts an,
Als daß er Treu' erzeigen
And Freundschaft halten kann;
Wann er mit seinesgleichen
Soll treten in ein Band,
Verspricht sich nicht zu weichen
Mit Herz und Mund und Hand.
2. Die Red' ist uns gegeben,
Damit wir nicht allein
Vor uns nur sollen leben
And fern von Leuten sein;
Freundschaft.
Wir sollen uns befragen
And seh'n auf guten Rat,
Das Leid einander klagen,
Das uns betreten hat.
3. Was kann die Freude machen,
Die Einsamkeit verhehlt?
Das gibt ein doppelt Lachen,
Was Freunden wird erzählt.
Der kann sein Leid vergessen,
Der es von Herzen sagt;
Der muß sich selbst auffressen,
Der in geheim sich nagt.