Full text: [Band 6 = 6. Schuljahr, [Schülerband]] (Band 6 = 6. Schuljahr, [Schülerband])

—178 — 
gebenheit, der dieses Erfordernis abgeht, bleibt das Volk fremd 
oder läßt sie bald wieder fallen. Wie unverbrüchlich sehen wir es 
dagegen an seinen eingeerbten und hergebrachten Sagen haften, die 
ihm in rechter Form nachrücken und sich an seine vertrautesten Be— 
griffe anschließen! Niemals können sie ihm langweilig werden, weil 
sie ihm kein eitles Spiel, das man einmal wieder fahren läßt, son— 
dern als eine Notwendigkeit scheinen, die mit ins Haus gehört, sich 
von selbst versteht und nicht anders als mit einer gewissen, zu allen 
ernsten Dingen nötigen Andacht bei dem rechten Anlaß zur Sprache 
kommt. Jene stete Bewegung und dabei unwandelbare Sicherheit 
der Volkssagen stellt sich, wenn wir es deutlich erwägen, als eine 
der trostreichsten und erquickendsten Gaben Gottes dar. Um alles 
den menschlichen Sinnen Ungewöhnliche, das die Natur eines Land— 
striches besitzt, um alles Ungewöhnliche, an das die Geschichte ge— 
mahnt, sammelt sich ein Duft von Sage und Lied, wie sich die 
Ferne des Himmels blau anläßt und zarter, feiner Staub um Obst 
und Blumen setzt. Aus dem Zusammenleben und Zusammenwohnen 
des Menschen mit Felsen, Seen, Ruinen, Bäumen, Pflanzen ent— 
springt bald eine Art von Verbindung zwischen ihm und diesen, die 
sich auf die Eigentümlichkeit jedes dieser Gegenstände gründet und 
ihn zu gewissen Stunden ihre Wunder vernehmen läßt. Wie mächtig 
das dadurch entstehende Band ist, zeigt an natürlichen Menschen 
jenes herzzerreißende Heimweh. Ohne diese sie begleitende Poesie 
müßten edle Völker vertrauern und vergehen; Sprache, Sitte und 
Gewohnheit würden ihnen eitel und willkürlich dünken, ja, hinter 
allem, was sie besäßen, eine gewisse Einfriedigung fehlen. 
Auf solche Weise verstehen wir das Wesen und die Tugend 
der deutschen Volkssage, welche Angst und Warnung vor dem Bösen 
und Freude an dem Guten mit gleichen Händen austeilt. Noch 
geht sie an Örtern und Stellen, die unsere Geschichte längst nicht 
mehr erreichen kann; beide fließen aber zusammen und untereinander, 
nur daß man zuweilen die von der Geschichte untrennbar gewordene 
Sage, wie in Strömen das aufgenommene grünere Wasser eines anderen 
Flusses, noch lange zu erkennen vermag. Nach J. u. W. Grimm. 
53. über die Kunst zu lesen. 
Was man auch immer von Schriftwerken lesen möge, so ist es 
entweder ein wissenschaftliches Werk oder ein Erzeugnis der schönen 
Literatur. Was keines von beiden wäre und ohne alle Beziehung
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.