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gebenheit, der dieses Erfordernis abgeht, bleibt das Volk fremd
oder läßt sie bald wieder fallen. Wie unverbrüchlich sehen wir es
dagegen an seinen eingeerbten und hergebrachten Sagen haften, die
ihm in rechter Form nachrücken und sich an seine vertrautesten Be—
griffe anschließen! Niemals können sie ihm langweilig werden, weil
sie ihm kein eitles Spiel, das man einmal wieder fahren läßt, son—
dern als eine Notwendigkeit scheinen, die mit ins Haus gehört, sich
von selbst versteht und nicht anders als mit einer gewissen, zu allen
ernsten Dingen nötigen Andacht bei dem rechten Anlaß zur Sprache
kommt. Jene stete Bewegung und dabei unwandelbare Sicherheit
der Volkssagen stellt sich, wenn wir es deutlich erwägen, als eine
der trostreichsten und erquickendsten Gaben Gottes dar. Um alles
den menschlichen Sinnen Ungewöhnliche, das die Natur eines Land—
striches besitzt, um alles Ungewöhnliche, an das die Geschichte ge—
mahnt, sammelt sich ein Duft von Sage und Lied, wie sich die
Ferne des Himmels blau anläßt und zarter, feiner Staub um Obst
und Blumen setzt. Aus dem Zusammenleben und Zusammenwohnen
des Menschen mit Felsen, Seen, Ruinen, Bäumen, Pflanzen ent—
springt bald eine Art von Verbindung zwischen ihm und diesen, die
sich auf die Eigentümlichkeit jedes dieser Gegenstände gründet und
ihn zu gewissen Stunden ihre Wunder vernehmen läßt. Wie mächtig
das dadurch entstehende Band ist, zeigt an natürlichen Menschen
jenes herzzerreißende Heimweh. Ohne diese sie begleitende Poesie
müßten edle Völker vertrauern und vergehen; Sprache, Sitte und
Gewohnheit würden ihnen eitel und willkürlich dünken, ja, hinter
allem, was sie besäßen, eine gewisse Einfriedigung fehlen.
Auf solche Weise verstehen wir das Wesen und die Tugend
der deutschen Volkssage, welche Angst und Warnung vor dem Bösen
und Freude an dem Guten mit gleichen Händen austeilt. Noch
geht sie an Örtern und Stellen, die unsere Geschichte längst nicht
mehr erreichen kann; beide fließen aber zusammen und untereinander,
nur daß man zuweilen die von der Geschichte untrennbar gewordene
Sage, wie in Strömen das aufgenommene grünere Wasser eines anderen
Flusses, noch lange zu erkennen vermag. Nach J. u. W. Grimm.
53. über die Kunst zu lesen.
Was man auch immer von Schriftwerken lesen möge, so ist es
entweder ein wissenschaftliches Werk oder ein Erzeugnis der schönen
Literatur. Was keines von beiden wäre und ohne alle Beziehung