Full text: Litteraturkunde (Fünfter Teil = 9. bezw. 9. und 10. Schuljahr, [Schülerband])

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Menschheit selbst. Zu einer solchen Annahme sind wir durch vieles be¬ 
rechtigt. Der Kunsttrieb wohnt einmal dem Menschen inne; welche 
Äußerung desselben ist aber einfacher und näher gelegen und unmittel¬ 
barer als die durch die Sprache, deren er ohnedies fortwährend zur 
Mitteilung bedarf? Dazu kommt noch eine Thatsache in Anschlag, daß 
nämlich in ihrer Jugendzeit jede Sprache mehr Gesang als eigentliche 
Sprache ist. Nun wissen wir aber auch, daß Dichten und Singen ur¬ 
sprünglich eins und unzertrennt waren. Da wird die Dichtkunst nur aus 
jener Zeit herrühren, wo auch Sprechen und Singen eins war, aus der 
allerältesten Zeit der Sprache, aus dem Jugendalter des Volkes, der 
Menschheit. Als Gott den Menschen schuf und ihm den Kunsttrieb und 
die Sprache aus die Welt mitgab, gab er ihm auch den Keim der Poesie 
mit auf die Welt, der unausbleiblich bald aufgehen mußte. 
Daß mithin das Alter der Poesie an das Alter der Welt hinauf¬ 
reiche, das haben auch die Griechen, die Orientalen und andere wohl er¬ 
kannt und mannigfach gesucht, in mythischer Form auszudrücken. Die 
Griechen leiten sie unmittelbar von den Göttern her. Hermes war kaum 
geboren, so übte er schon, er der Erste, Poesie und Musik; er bezog die 
Schale einer Schildkröte mit Saiten und sang, indem er sie mit dem 
Plektrum schlug, die Liebe des Zeus und der Maja, seine eigene Geburt, 
die Nymphen der mütterlichen Grotte nebst dem Hausrat, wie das an¬ 
mutig dargestellt ist in dem homerischen Hymnus auf Hermes. Ebenso 
bei den Finnen: die Erfindung der Harfe und mit ihr des Gesanges und 
der Dichtkunst schreiben sie Wäinämöinen, dem lichten Gotte des Guten, 
zu. - 
Wie hier die ganze Poesie, so werden anderswo auch einzelne haupt¬ 
sächliche Formen derselben, werden Versformen, die bestimmte Dichtungs¬ 
arten bezeichnen und vertreten, auf Götter zurückgeführt oder doch ihr 
Ursprung in jene entlegenen Zeiten versetzt, da die Götter noch auf 
Erden wandelten. So soll der Hexameter von den Musen selbst erfunden 
sein; als Apollo den pythischen Drachen erlegte, da riefen ihm die Musen 
ermutigende Worte, dann ihren Beifall zu; von selbst ordnete und gliederte 
sich ihr Ruf in rhythmischer Weise, und so sprachen und sangen sie die 
ersten Hexameter. In ähnlicher Weise hat auch der Trimeter, die Vers¬ 
form der Komödie und des Dramas überhaupt, einen mythischen Ursprung: 
denn er hat seinen Namen von der Jambe, einer Magd im königlichen 
Palast zu Eleusis, welche die Demeter, da diese in Betrübnis um ihre 
Tochter umherirrte, durch ihre lustigen Einfälle endlich wenigstens zum 
Lächeln brachte. 
Tiefsinniger sind einige morgenländische Sagen, welche gleichfalls das 
hohe Alter und den göttlichen Ursprung der Poesie behaupten. Nach den 
Arabern ist der erste Dichter Adam selbst gewesen; er sang aber das erste
	        
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