Full text: Litteraturkunde (Fünfter Teil = 9. bezw. 9. und 10. Schuljahr, [Schülerband])

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Emanuel Geibel zu leben vergönnt. Von einem offenen, Zutrauen er¬ 
weckenden Wesen, zugleich von kecker und rascher Derbheit, welche nimmer 
zu heucheln lernt und noch den Greis mit jugendlichem Schimmer umgab; 
im Besitz einer wunderbaren Leichtigkeit, in den zierlichsten Formen und 
Reimen geist- und gemütvoll zu improvisieren; voll fröhlicher Wanderlust, 
die ihn bald an die Gestade des Rheins, nach Hessen und den Neckar¬ 
städten, bald in den Harz, die Elbgebirge und zum Oderstrande führte; 
von dem prosaischen Kampfe um die Existenz befreit durch dreier Könige 
Huld, die ihn mit allem beschenkte, was ihm zum Leben nötig; empfangen, 
wohin er auch sich wandte, mit allen Zeichen der Verehrung und von 
ihnen begleitet, wenn er schied — das war Geibel, das sein Erdenwallen. 
Nachdem er (1835) in seiner Vaterstadt Lübeck das Gymnasium 
Catharineum absolviert hatte, ward der zwanzigjährige Jüngling von 
seinem Vater, einem würdigen Geistlichen, nach Bonn entlassen, um da¬ 
selbst Theologie und Sprachen zu studieren; die erstere gab er auf, als 
er ein Jahr später nach Berlin ging. Schnell fand er hier, besonders 
durch Adelbert v. Chamisso, der bereits in seinem Deutschen Musen¬ 
almanach für das Jahr 1834 einige Strophen von „L. Horst", dem jungen 
E. Geibel, veröffentlicht hatte, Eingang und Aufmunterung in einem 
Kreise vornehmer Geister, welchem Franz Kugler, Eduard Hitzig, Ernst 
v. Houwald, Franz v. Gaudy, Otto Gruppe, Willibald Alexis, August 
Kopisch, Joseph v. Eichendorff angehörten; Bettina v. Arnim interessierte 
sich hier für ihn, und ihrer sowie des Staatsrates v. Savigny Em¬ 
pfehlung verdankte der junge Dichter das seltene Glück, daß er, als Lehrer 
in dem Hause des russischen Gesandten zu Athen, zwei Jahre hindurch 
(1838—1840) auf dem klassischen Boden Griechenlands wandeln durfte, 
wohin sein Landsmann, Alters- und Studiengenosse Ernst Curtius ihm 
unlängst vorausgegangen war. Voll von den empfangenen Eindrücken, 
namentlich der gemeinsam unternommenen Cykladenreise, voll von Be¬ 
wunderung der formvollendeten Poesie Platens, deren Verständnis hier 
sich ihm erschlossen, kehrte der Fünfundzwanzigjährige in die nordische 
Heimat zurück; noch in demselben Jahre trat er mit einem Bändchen Ge¬ 
dichte, ein Jahr darauf mit den Zeit stimmen in die Öffentlichkeit — 
und diese „Gedichte", welche Geibel bei seinen Lebzeiten neunundneunzig- 
mal hat erscheinen sehen, machten ihn sogleich zum Liebling seines Volkes; 
ließen sie doch inmitten der mißtönigen, streit- und tadelsüchtigen Poesie 
jener Tage den reinen Wohllaut edler Lebensfreudigkeit wiederum ver¬ 
nehmen und drangen durch das Tosen eines revolutionären Pessimismus 
mit dem festen Tone religiösen und patriotischen Vertrauens. 
In der nächsten Zeit folgte der so schnell Berühmtgewordene, da er 
eine erhoffte Anstellung als Lehrer in Lübeck nicht erhielt, manch einer 
Einladung, wie des alten Ernst v. Houwald nach deffen Gme Neuhaus 
vr. Saure, Deutsches Lesebuch. Ausgabe^. Teil V. 38
	        
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