Full text: [Teil 4 = Tertia, [Schülerband]] (Teil 4 = Tertia, [Schülerband])

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Großvaters, des wilden Hagen von Irland, nicht verloren sei. Dem 
alten Wate lachte das Herz, wenn Ortwin in jeder Art von Sprung 
und Stoß den Meister zu erreichen suchte; denn er selbst hatte nach 
dem Wunsche der Eltern den Knaben im Stürmeland erzogen. „Der 
junge Bär, pflegte er mit behaglichem Brummen zu sagen, fängt an 
das Mark in den Knochen zu fühlen." 
Gudrun selber wußte von ihrer Schönheit nichts, denn niemand 
hatte ihr davon ein Wort gesagt, aber weit und breit erscholl der Ruf 
von ihrer Lieblichkeit und ihren Tugenden. Auch dem König Siegfried 
von Moorland ward kund, daß sie die schönste und herrlichste aller 
Jungfrauen sei, und weil er sich selbst für so mächtig hielt, daß keiner 
sich seiner Kraft vergleichen durfte, warb er um ihre Hand. Aber die 
stolzen Eltern versagten ihm die Tochter; sie schiene ihnen zu hehr, 
ließen sie dem König Siegfried durch seine Abgesandten sagen, als daß 
sie in Sumpf und Moor Unkenkönigin werden sollte. Da schwur der 
beleidigte Werber sich zu rächen. 
Auch im fernen Lande der Normannen ward bekannt, kein Weib 
auf Erden sei so schön wie Gudrun, König Hettels Tochter. Der Nor¬ 
mannenkönig Ludwig und seine Gemahlin, die stolze Gerlinde, hatten 
schon längere Zeit bedacht, daß es Zeit sei, ihren Sohn Hartmut zu 
vermählen; nun kam der ehrgeizigen Mutter der Gedanke, ihrem Hause 
noch höheren Glanz zu erwerben durch die Verbindung Hartmuts mit 
der weitgepriesenen Tochter des mächtigsten und reichsten Königs. Der 
alte Ludwig schüttelte den Kopf zu dem Vorschlag: ihm deuchte es ge¬ 
fährlich, in so weite Ferne Boten zu senden, denn Hettel und Hilde 
seien stolz und sie würden ihr Kind nicht auf Nimmerwiedersehen von 
sich lassen. Aber dem Drängen der ehrgeizigen Gerlinde und dem Ver¬ 
langen Hartmuts gab endlich Ludwig nach, und er sandte sechzig aus¬ 
erlesene Helden mit kostbaren Geschenken ins Land der Friesen. Als 
diese um die Hand der Königstochter für Hartmut warben, da erwiderte 
die stolze Hilde: „Mein Vater Hagen gab dem König Ludwig hundert 
Burgen zu Lehen; wie mag er sich denn unterfangen, meine Tochter 
für seinen Sohn zu begehren? Er ist ihr nicht ebenbürtig, sie wird 
nie sein Weib. Braucht er eine Königin, so mag ihm sonstwo die 
Werbung glücken." Da zogen die Boten in Scham und Sorge ab, 
und Hartmut biß sich in die Lippe, als er die üble Antwort vernahm; 
weil er aber von den Boten hörte, daß Gudrun noch schöner und lieb¬ 
licher sei, als der Ruf künde, gelobte er sich, was seiner Bitte versagt 
sei, mit Gewalt zu ertrutzen. Die stolze Gerlinde aber warf einen 
ingrimmigen Haß auf die Jungfrau, die sie nie gesehen hatte. 
Inzwischen hatte auch der starke und edle König Herwig im nieder¬ 
ländischen Seeland von Gudruns Schönheit und Tugend gehört, und 
da er in die Jahre kam, daß er einer Königin bedurfte, so beschloß er
	        
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