Full text: Deutsches Lesebuch für die sechste Klasse bayerischer Mittelschulen (Untersekunda) (6, [Schülerband])

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bringt das verschiedenartigste plötzlich zusammen,- es kommen Fremde, 
die unter anderem Fimmel, nach anderen Gesetzen leben,- es findet ein 
unendliches vergleichen, Lernen, Mitteilen statt, und je lohnender der 
85 Vustausch der verschiedenartigen Landesprodukte ist, um so rastloser arbeitet 
der menschliche Geist, den Gefahren des Meeres durch immer neue Er¬ 
findungen siegreich entgegenzutreten. 
Euphrat und Nil bieten Jahr um Jahr ihren Anwohnern dieselben 
Vorteile und regeln ihre Beschäftigungen, deren stetiges Einerlei es mög- 
oo lich macht, daß Jahrhunderte über das Land hingehen, ohne daß sich in 
den hergebrachten Lebensverhältnissen etwas Wesentliches ändert. Ls er¬ 
folgen Umwälzungen, aber keine Entwickelungen und mumienartig ein¬ 
gesargt stockt im Tale des Nils die Kultur der Ägypter,' sie zählen die 
einförmigen Pendelschläge der Zeit, aber die Zeit hat keinen Inhalt,- sie 
95 haben Ehronologie, aber keine Geschichte im vollen Linne des Wortes. 
Lolche Zustände der Erstarrung duldet der Wellenschlag des Ügäischen 
Meeres nicht, der, wenn einmal verkehr und geistiges Leben erwacht ist, 
dasselbe ohne Ltillstand immer weiter führt und entwickelt. 
Was endlich die natürliche Begabung des Bodens betrifft, 
Ivo so war in diesem Punkte eine große Verschiedenheit zwischen der östlichen 
und westlichen Hälfte des griechischen Landes. 
Die Üthener brauchten von den Mündungen der kleinasiatischen 
Flüsse nur wenig Stunden aufwärts zu gehen um sich zu überzeugen, 
wieviel reicher dort der Uckerboden lohne, und mit Neid die tiefen 
105 Schichten der fruchtbarsten Erde in Äolis und Ionien zu bewundern. Der 
Wuchs der pflanzen und Tiere war üppiger, der Verkehr in den breiten 
Ebenen so ungleich leichter. Lind doch im europäischen Lande die Ebenen 
nur wie Furchen und schmale Becken zwischen den Gebirgen eingesenkt 
oder dem äußeren Kunde derselben angeschwemmt,- über hohe Joche, 
iio die erst für Menschentritte geöffnet und dann mit unsäglicher Mühe 
für Laumtiere und Wagen gebahnt werden mußten, stieg man von einem 
Tale zum anderen hinüber. 
Buch die Gewässer der Ebenen blieben meist den Legen schuldig, 
den man von ihnen erwartete. Bei weitem die meisten waren im Lommer 
115 versiegende Flüsse, früh hinsterbende Nereidensöhne, wie die Lage sie dar¬ 
stellte, oder Geliebte der Leenymphen, deren Liebesbund früh zerrissen 
wird, und wenn auch des Landes Trockenheit jetzt ungleich größer 
ist als im Altertume, so waren doch seit Menschengedenken des Ilissos wie 
des Inachos Wasseradern unter dürrem Kieslager verschwunden. Neben 
120 größter Dürre ist dann wieder ein Übermaß von Wasser, das hier im 
Talbecken, dort zwischen Berg und Meer stockend die Luft verpestet und 
jedem Unbaue widerstrebt. Überall gab es Urbeit und Kampf. 
Und dennoch — wie frühe würde die griechische Geschichte zu Ende 
gegangen sein, wenn sie nur unter dem Himmel Ioniens ihre Ltütte 
125 gefunde-n hätte! Die volle Energie, welcher das Volk fähig war, ist 
doch erst im europäischen Hellas zutage getreten, auf dem so ungleich
	        
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