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Am andern Morgen kam der Mann wirklich nach dem Schlosse Hohen¬
schwangau und wunderte sich nicht wenig, als ein Bedienter gleichsam aus
ihn zu warten schien, ihn durch die Zimmer führte und zuletzt sagte, er solle
nur ein wenig warten, der Herr werde gleich kommen. Znm Erstaunen des
Bauern trat bald darauf der Herr, den er gestern gesehen hatte, ein und
fragte ihn, was es ihm denn gekostet habe bis daher zu kommen.
„Meiner Seel', gar nichts I" erwiderte der Landmann; „es ist doch merk¬
würdig, was die Leut' alles lügen!"
Der König gab ihm sofort ein Paket Banknoten mit den Worten:
„Wenn Euer Sohn tauglich ist und sich nicht losgespielt hat, so kann man
ihn den Herren freilich nicht nehmen, weil das Gesetz entgegen ist; allein los¬
kaufen kann man ihn und da habt Ihr nun das Geld dazu!" Der Bauer
entfernte sich mit Tränen des Dankes und unter herzlichen Worten von dem
fremden Herrn. Und nach größer war seine Freude, als er später erfuhr,
daß es der König gewesen, der ihm diese Wohltat erwiesen habe.
Ludwig Hauff. Leben und Wirken Maximilians II. München 1864*. S. 892 f.
Vgl. Engleder, Vaterländ. Geschichtsb. Nr. 23 (Maximilians II. Denkmal in
München); Koch, Bilderatlas z. bayer. Gesch. S. 54 (Max II.).
72. Der Christbaum der Königin.
Der für Naturschönheit und Kunst gleich schwärmerisch begeisterte König
Ludwig II. hielt sich nirgends so gerne auf wie in seinen geliebten Bergen.
In den dort erbauten, zum Teil mit märchenhafter Pracht ausgestatteten
Schlössern verweilte er die meiste Zeit des Jahres, oft in weltabgeschiedener
Einsamkeit.
Einst war er mit seiner Mutter, Königin Marie, der er mit zärtlichster
Liebe und schwärmerischer Verehrung zugetan war, nach dem Schlosse Hohen¬
schwangau gekommen. Es war zu beginnender Winterszeit, als die Königin¬
mutter einmal von ihrem Fenster hinaussah auf die glänzende, schneebedeckte
Landschaft zu ihren Füßen.
Da erblickte sie dem Schlosse gegenüber eine einzelnstehende Tanne auf
einem Felsenvorsprung, deren mit Reif und Eiskristallen bedeckte Äste und
Zweige gleich einem mächtigen Christbaum leuchteten und blitzten in den Strahlen
der untergehenden Sonne. Von der Lieblichkeit des Bildes ergriffen gab sie
ihrer Freude darüber dem Könige gegenüber lebhaften Ausdruck.
Indes die majestätische Tanne trat bald wieder in den Hintergrund
ihrer Gedanken und war wohl, als die Zeit ihrer Abreise herankam, von ihr
schon wieder ganz vergessen. Nicht so von dem Könige.
Kurz vor Weihnachten sandte er der hohen Frau eine Einladung, die
kommenden Feiertage mit ihm auf dem alten, lieben Hohenschwangau zu
verbringen. Hier wurde denn auch der heilige Abend gemeinsam gefeiert.
Während nun die Herren und Damen des beiderseitigen kleinen Gefolges in
den festlich geschmückten Sälen unter den lichterstrahlenden Christbäumen hin
und her wandelten, bald da bald dort die auf den Tischen verteilten könig¬
lichen Gaben bewundernd, trat König Ludwig mit frohem Lächeln zu seiner