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Die zweite Blütezeit der deutschen Dichtung.
am schlimmsten ist, das Theater, ärgert ihn am meisten, und darum setzt er
dort mit seinen Neuerungen ein. Alles häßliche sucht er von der Bühne,
die nicht bloß ein Tummelplatz für das niedere Volk, sondern auch eine Stätte
des Genusses für die Gebildeten sein soll, zu vertilgen- daher sucht er die
hanswurstiaden und Haupt- und Staatsaktionen abzuschaffen und etwas
Besseres dafür zu bieten. Naturgemäß kommt er dabei wie Dpitz, mit dem
er überhaupt manche Ähnlichkeit hat, auf fremde Vorbilder, weil in Deutsch¬
land nichts Gutes zu finden ist, und wieder sind es die Franzosen. Seine
wünsche setzt er in Taten um. Die Stätte, auf der in Deutschland zum ersten
Male regelmäßige Stücke erschienen, ist das Leipziger Theater der Frau
Karoline Neuberin, die Gottsched für seine Pläne zu gewinnen wußte.
Die aufgeführten werke sind klassische Dramen der Franzosen, die er, seine
Frau und seine Freunde übersetzt hatten; später dichtete man auch selbständig,
freilich ohne rechten Erfolg. Einer der berühmtesten, aber auch schlechtesten
versuche ist Gottscheds „Sterbender Tato", ein Trauerspiel, das in steifen
Alexandrinern aus einer französischen und einer englischen Vorlage zusammen¬
gezimmert ist. wie für die Form der Alexandriner, so ist für den Aufbau
die Innehaltung der drei Einheiten des Grtes, der Zeit und der Handlung
für Gottsched unentbehrlich.
Seinem zweiten Ziele, die allgemeine und besonders die sprachliche
Bildung zu erhöhen, suchte er durch die Herausgabe volkstümlicher Zeit¬
schriften und mehrerer Sprachbücher näher zu kommen. Seine „Beiträge zur
kritischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit" boten in
ihren zahlreichen Bänden eine Fülle von wertvollen Abhandlungen aus allen
Gebieten der schönen Wissenschaften und erfreuten sich größter Beliebtheit, wie
weit des angeblich so beschränkten Gottsched Blick reichte, geht unter anderm
daraus hervor, daß er auch die Frauen in den Bereich seiner Bemühungen
zog. war seine Frau seine getreuste Freundin und Mitarbeiterin, so war
die Zeitschrift „Die vernünftigen Tadlerinnen" nicht nur für, sondern zum
Teil auch von Frauen geschrieben, und eine Zeitlang hatte er sogar den kühnen
Plan, in Königsberg oder Danzig eine „Akademie für das Frauenzimmer"
— heute würde man Frauenuniversität sagen — zu begründen. Seine
Ansichten in sprachlichen und poetischen Dingen legte er in drei großen
Werken nieder, in der „Redekunst", dem „versuch einer kritischen Dichtkunst
vor die Deutschen" und der „Grundlegung zu einer deutschen Sprachkunst",
die lange Zeit als mustergültig angesehen wurden und weitesten Einfluß
übten. Endlich war Gottsched auch ein tüchtiger Gelehrter, der sich um die
ältere deutsche Sprache und Literatur wohl verdient machte, und außerdem ein
gut deutsch gesinnter Mann, der aus seinem stark ausgeprägten National¬
gefühl kein hehl machte.
Gottsched wußte einen großen Kreis von Freunden und Anhängern um
sich zu scharen, die sich zuerst in blindem Eifer und Gehorsam nicht genug
tun konnten, ihn aber später fast ausnahmlos schmählich im Stiche ließen
und sogar bitter und undankbar schmähten.
Es war schließlich unausbleiblich, daß Gottscheds literarische Allein¬
herrschaft auf Widerspruch stoßen mußte. Vieser ging vom deutschen Süden,
von der Schweiz aus, wo zwei gelehrte junge Männer, Johann Jakob
Bo dm er und Johann Jakob Breitinger, treue Freunde, die viele ihrer
Werke gemeinsam schrieben, ganz unabhängig ähnliche Bestrebungen ver¬
folgten und ähnliche Fragen untersuchten wie Gottsched. Ihren Anschauungen