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10 2. Unter schlimmen Verhältnissen wissen sich die Wiesengräser,
die echten Kinder unserer Heimat, zu behaupten. Euch ist wohl
noch gar nicht der Gedanke gekommen, wie grausam man gegen
sie verfährt, wenn immer, sobald sie anfangen, für ein neues Ge¬
schlecht, ihre Kinder, zu sorgen, die Sense des Schnitters sie un-
15 barmherzig abschneidet? Zwei- bis dreimal im Jahr werden sie
abgemäht; aber unverdrossen treiben sie gleich wieder neue Halme
empor, legen neue Blüten an, ob es ihnen nicht doch gelinge, Samen
heranzureifen. Sie sind die ursprünglichen Besitzer von Grund und
Boden und halten ihn zähe fest gegen alle Gewalttätigkeit, die man
20 gegen sie ausübt. Mit großer Schnelligkeit siedeln sie sich an allen
unbeackert gelassenen Orten an. Ja selbst von dem Steinpflaster
der Städte muß man sie mühsam entfernen. Denkt einmal, man
ließe sie ungehindert wachsen! Wie würden dann ihre federleichten,
kleinen Früchte weit und breit vom Winde umhergetragen werden
25 und das ganze Land in eine einzige, mächtige Wiese, gleich einer
Prärie Nordamerikas, verwandeln. Dann würden sich die Gräser
als das zeigen, was sie sind, die ureingeborenen, echten Herren
des Landes.
3. Sie beweisen ihre Herrschernatur auch jetzt noch in ihrer
30 Unterdrückung. Gerne gewähren sie Kräutern und Stauden ein
Unterkommen in ihrer gedrängten Gemeinschaft, dulden es sogar, wenn
Augentrost, Hahnenkamm und andere gelegentlich Nahrung aus ihren
Wurzeln saugen. Denn die genannten Pflanzen pflegen im Jugend¬
zustande mit feinen, zu Saugscheiben anschwellenden Wurzelfädchen
35 die Wurzeln der Gräser zu umspinnen und ihren Saft zu eigener
Nahrung auszusaugen. Bald allerdings verlassen sie sich auf die
eigene Kraft und nehmen ihre Nahrung aus dem Boden.
4. Woher kommt nun die große Zähigkeit und Ausdauer der
Wiesengräser? Nehmen wir eine Staude vollständig heraus! Ein
40 Teil der Halme steigt zwar stolz empor, andere aber, schwächere,
ducken sich an die Erde, kriechen hier weiter, verzweigen sich, treiben
an den Knoten Wurzeln und nach oben Blätter. So ist eine Staude
gleich einer kräftigen Mutter mit ihrer muntern, schön gedeihenden
Kinderschar. Einige der Kinder haben sich schon selbständig gemacht:
45 der verbindende Stengel ist abgefault, und die neue Staude hat
selber schon wieder eine kleine Schar von Kindern um sich ver-