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240. Aaiser Wilhelms Herzensgute.
Ein Soldat aus Mecklenburg stand im Spätherbste J(8?0 vor
Paris auf Vorposten, hier erhielt er einen Brief aus der Heimat,
und da er lange ohne Nachricht geblieben war, konnte er sich nicht
enthalten, ihn gleich zu erbrechen. Beim Lesen vertieft er stch
nun so, daß er kein Auge und Dhr für das hat, was um ihn her
geschieht, plötzlich hört er Geräusch, sieht auf und erblickt den
Aönig und den Aronprinzen nebst Gefolge. Erschreckt läßt er den
Brief fallen und macht die üblichen Honneurs.
Der Aönig, der feine Angst und Verwirrung bemerkte, kam
freundlich auf ihn zugeritten und fragte: „Nun, ein Brief von der
Braut?" — „Nein, Majestät, von meinem Vater!" entgegnete
dieser. „Darf ich den Brief lesen, oder enthält er Geheimnisse?"
fragte der Aönig weiter. Der Soldat übergab hierauf den Brief
dem Aönige. Dieser wendete sich zu seiner Umgebung und las
unter anderem folgendes laut vor:
„In vierzehn Tagen hat Deine Schwester Hochzeit. Mir alle
werden Dich an diesem Tage schmerzlich vermissen; am meisten
grämt sich aber Deine alte Mutter, Dich nicht zu sehen. Schadet aber
nichts; kämpfe nur tapfer und zeige, daß Du ein Deutscher bist!"
Der Aönig gab den Brief zurück und ritt weiter. Es währte
aber nicht lange, so wurde der Soldat von seinem Posten abgelöst.
Er erhielt vierzehn Tage Urlaub und konnte auf Aosten des Aönigs
die Reife nach Mecklenburg antreten. Karl Reck.
241. Die freunde in der Nol.
In Not und Tod werden auch Feinde zu Freunden, wenn
sie anders Menschen sind. Das zeigt folgende Geschichte.
In einem der letzten französischen Kriege, als nach der
Schlacht alles durcheinander ging bei Nebel und Wetter, fiel
ein Franzose in ein tiefes Loch, eine ausgetrocknete Zisterne,
aus der er sich nicht mehr heraushelfen konnte, und bald
nachher plumpste auch ein Deutscher hinein und blieb auch
darin stecken. Der Franzose schrie: „Kiwi?“ und der Deutsche:
„Wer da?“ Und jeder merkte nun, wen er vor sich habe,
und daß sie sich gemächlich den Säbel durch den Leib
rennen könnten als echte Patrioten. Sie bedachten sich aber
eines andern und gaben sich in gebrochenem Deutsch und
Französisch, so gut es gehen mochte, zu erkennen, es sei
Weimar Lesebuch II. \5