Full text: Deutsches Lesebuch mit Bildern für Volksschulen

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hatte. Dürfet Ihr, sagte ich zu der Mutter, die ich draußen fand, die Kinder 
so allein lassen, und müßt Ihr nicht besorgen, daß sie unter sich ein Unglück 
anrichten? O! war ihre Antwort, das hat so leicht nichts zu sagen; ich habe 
alles ans die Seite gelegt, womit sie sich Schaden thun könnten, und wenn 
5 einem zu nahe geschehen sollte, so wird es schon schreien, daß ich es höre. 
Ich mache es, wie der liebe Gott mit den Menschenkindern. Der hat ihnen 
den Brotkorb so hoch gehängt, daß sie ihn nicht herunterreißen können, und 
um die Brocken mögen sie sich seinethalben so viel schlagen, als sie Lust haben. 
Wenn sie es zu arg machen, weiß er wohl, was er zu thun hat. 
10 So meint Ihr, liebe Frau, Gott sehe nicht in die Stube, sondern lasse 
die Kinder kramen, und beruhige sich damit, daß sie ihm nichts verderben 
können? — Ja! das meine ich, erwiderte sie schnell, und ich sehe nicht, 
wärmn er es anders halten sollte. Könnten wir ihm wohl etwas von seinem 
großen Werke verderben? Und kann er uns nicht nach unserm Willen laufen 
15 lassen, bis wir zu ihm schreien? oder bis er es der Mühe wert hält, Holla 
zu rufen? — 
2. Ich kam neulich in die Hütte eines Landmanns, dem die vorige Nacht 
das Wasser seine vier lehmernen Wände ausgespület und alles verdorben hatte. 
Lieber Freund! sagte ich zu ihm, wie könnt Ihr hier, wo Ihr beinahe auf 
20 eine Stunde Wegs keinen Nachbarn und keine Hilfe habt, wo Ihr allen vier 
Elementen zum baren Raube offen liegt, wo Diebe und Mörder und alles, 
was einen armen, hilflosen Menschen überfalleil kann, eine fast unumschränkte 
Gewalt über Euch haben; wie könnt Ihr hier mit Eurer Frau und Euren 
kleinen Kindern, die Ihr noch nicht weit schicken könnt, mit Ruhe schlafen? 
25 Wenn einem von Euch in der Nacht etwas zustieße, so müßtet Ihr Euch ja 
schlechterdings auf Gottes Barmherzigkeit verlassen. 
Ich kann wohl sehen, antwortete mir der Mann, daß Sie aus der Stadt 
sind, wo die Kinder nicht schlafen können, wenn die Magd nicht bei der Wiege 
sitzt. Hier auf dem Lande sind wir ganz anders gewöhnt. Sobald wir des 
30 Abends unser Gebet gethan haben, so sind wir in Gottes Gewalt; und nun 
mag es regnen und schneien, stürmen und wehen, so können alle vier Elemente 
uns wohl aus dem Bett bringen, wie es auch das Wasser noch vorige Nacht 
gethan hat; aber sonst denken wir: Was Gott will, das geschehe! und damit 
schlafen wir ruhiger ein, als wenn alle Wächter aus der Stadt uns die Ohren 
35 voll bliesen. Wer dem lieben Gott vertrant, dem steht er in allen seinen 
Nöten wunderbarlich bei. — Der Bürger zwischen seinen hohen Mauern mag 
sich vor Dieben fürchten, mir ist es noch nicht eingefallen; und wie mir in 
den teuren Jahren mein Backofen erbrochen wurde, so bat ich Gott, daß er 
mich nicht in die Not setzen möchte, ein Gleiches zu thun. 
40 Ich verließ den Mann, um ihn von der Ausbesserung seiner Hütte nicht 
länger abzuhalten, machte aber doch die natürliche Anmerkung, daß die Religion 
auf dem Lande weit stärker sei, als in den Städten, und sagte zu mir selbst: 
wie wollten dergleichen Leute fertig werden, wenn sie nicht einen so starkeir 
Glauben hätten? Dieses führte mich endlich auf den Schluß, daß, wenn auch 
45 die sogenannte feinere Welt alle Religionen aus der Welt wegdisputierte, die 
Bedürfnisse des Landmanns sie immer wieder zurückrufen würden; die Not 
würde überall und allemal wieder beten lehren.
	        
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