Full text: Deutsches Lesebuch mit Bildern für Volksschulen

213 
eine Vielfachheit der Gestalten, welch ein Spiel der Farben, welche Fülle in 
der Werkstätte der reichsten Kraft und der unerforschlichen Weisheit? Nicht 
weniger nmß man sich wundern über die Geschwindigkeit, mit welcher die 
Natur jede leere Stelle auf öden Feldern, verlassenen Wegen, kahlen Felsen, 
Mauern und Dächern, wo nur eine Hand voll fruchtbarer Erde hingefallen 5 
ist, ansäet und mit Gras, Kräutern, Stauden und Buschwerk besetzt. Das 
sieht man oft und achtet's nicht, eben weil man es von Kindheit an so oft sieht; 
die größte Weisheit verrät sich in der einfachen und natürlichen Einrichtung 
der Dinge, und man erkennt sie nicht, eben weil alles so einfach und natür¬ 
lich ist. 10 
2. Die meisten Pflanzen haben eine wunderbare Vermehrungskraft, wie 
jeder aufmerksame Landwirt wohl weiß. Tausend Samenkerne von einer 
einzigen Pflanze, so lange sie lebt, ist zwar schon viel gesagt, nicht jede trägt's, 
aber es ist auch noch lange nicht das Höchste. Man hat schon an einer einzigen 
Tabakspflanze 40 000 Körnlein gezählt, die sie in einem Jahre zur Reife 15 
brachte. Man schätzt, daß eine Eiche 500 Jahre leben könne. Aber wenn 
wir uns nun vorstellen, daß sie in dieser langen Zeit nur fünfzigmal Früchte 
trage und jedesnml in ihren weit verbreiteten Ästen und Zweigen nur 500 
Eicheln, so liefert sie doch 25 000, wovon jede die Anlage hat, wieder ein 
solcher Baum zu werden. Gesetzt, daß dieses geschehe, und es geschehe bei 20 
jeder von diesen wieder, so hätte sich die einzige Eiche in der zweiten Abstam¬ 
mung schon zu einem Walde von 625 Millionen Bäumen vermehrt. Wie¬ 
viel aber eine Million oder tausendmal 1000 sei, glaubt man zu wissen, und 
doch erkennt es nicht jeder. Denn wenn ihr ein ganzes Jahr lang vom 
1. Januar bis zum 31. Dezember alle Tage 1000 Striche an eine große 25 
Wand schreibet, so habt ihr am Ende des Jahres noch keine Million, sondern 
erst 365 000 Striche, und das zweite Jahr noch keine Million, sondern erst 
730 000 Striche, und erst am 26. September des dritten Jahres würdet ihr 
zu Ende kommen. Aber unser Eichenwald hätte 625 solcher Millionen, und 
so wäre es bei jeder andern Art von Pflanzen nach Verhältnis in noch viel 30 
kürzerer Zeit, ohne an die zahlreiche Vermehrung durch Augen, Wurzelsprossen 
und Knollen zu gedenken. Wenn man sich also einmal über diese große Kraft 
in der Natur gewundert hat, so hat man sich über den großen Reichtum an 
Pflanzen aller Art nicht mehr zu verwundern. Obgleich viele tausend Kerne 
und Körnlein alle Jahre von Menschen und Tieren verbraucht werden, viele 35 
lausend im Boden ersticken oder im Auskeimen durch ungünstige Witterung 
und andere Zufälle wieder zu Grunde gehen, so bleibt doch, jahraus jahrein, 
ein freudiger und unzerstörbarer Überfluß vorhanden. Auf der ganzen weiten 
Erde fehlt es nirgends an Gesäme, überall nur an Platz und Raum. 
3. Aber wenn jeder reife Kern, der sich von seiner Mutterpflanze ablöset, 40 
unter ihr zur Erde fiele und liegen bliebe; alle lägen auf einander, keiner 
konnte gedeihen, und wo vorher keine Pflanze war, käme doch keine hin. Das 
Oat die Natur vor uns bedacht und nicht aus unsern guten Rat gewartet, 
^enn einige Kerne, wenn sie reif sind, fliegen selbst durch eine verborgene 
Kraft weit auseinander; die meisten sind klein und leicht und werden durch 45 
lede Bewegung der Luft davon getragen; manche sind noch mit kleinen Feder¬ 
lein besetzt, wie der Löwenzahn (Kettenblume), Kinder blasen sie zum Vergnügen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.