Full text: Deutsches Lesebuch mit Bildern für Volksschulen

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meine Wiesen und Äcker abgenaget und verderbet." Das Lämmlein antwortet: 
„Wie ist das möglich? Hab' ich doch keine Zähne." — „Ei," sprach der Wolf, 
„und wenn du gleich viel ausreden und schwatzen kannst, will ich dennoch 
heut' nicht ungefressen bleiben," und würget also das unschuldige Lämmlein 
5 und fraß es. 
Der Welt Lauf ist: Wer fromm sein will, der muß leiden, sollte man 
eine Sache vom alten Zaun brechen, denn Gewalt gehet vor Recht. Wenn 
man dem Hunde zu will, so hat er das Leder gefressen; wenn der Wolf will, 
so ist das Lamm unrecht. 
io 13. Vom Kranich und Wolfe. 
(Fabel. — Luther nach Äsop.) 
Da der Wolf einstmals ein Schaf geiziglich fraß, blieb ihm ein Bein 
im Halse überzwerch stecken, davon er große Rot und Angst hatte, und erbot 
sich, großen Lohn und Geschenk zu geben, wer ihm helfe. Da kam der Kranich 
15 und stieß seinen langen Kragen dem Wolf in den Rachen und zog das Bein 
heraus. Da er aber den verheißenen Lohn fordert, sprach der Wolf: Willst 
du noch Lohn haben? Danke Gott, daß ich dir den Hals nicht abgebissen 
habe. Du solltest mir schenken, daß du lebendig aus meinem Rachen 
gekommen bist." 
20 Wer den Leuten in der Welt will wohlthun, der muß sich erwägen, 
Undank zu verdienen; die Welt lohnet nicht anders, denn mit Undank, wie 
man spricht: „Wer einen vom Galgen erlöset, dem hilft derselbige gern daran." 
14. Der Wolf aus dem Todbette. 
(Fabel. — Lessing nach Äsop.) 
25 Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden Blick auf 
sein vergangenes Leben zurück. Ich bin freilich ein Sünder, sagte er; aber 
doch, ich hoffe keiner von den größten. Ich habe Böses gethan, aber auch 
viel Gutes. Einstmals, erinnere ich mich, kam mir ein blökendes Lamm, 
welches sich von der Herde verirrt hatte, so nahe, daß ich es gar leicht hätte 
30 würgen können; und ich that ihm nichts. Zu eben dieser Zeit hörte ich die 
Spöttereien und Schmähungen eines Schafes mit der bewundernswürdigsten 
Gleichgültigkeit an, ob ich schon keine schützenden Hunde zu fürchten hatte. 
Und das alles kann ich dir bezeugen, fiel ihm Freund Fuchs, der ihn 
zum Tode bereiten half, ins Wort. Denn ich erinnere mich noch gar wohl 
35 aller Umstände dabei. Es war zu eben der Zeit, als du dich an dem Beine 
so jämmerlich würgtest, das dir der gutherzige Kranich hernach aus dem 
Schlunde zog. 
15. Janko und der Wolf. 
(Jacobs.) 
40 Nicht weit von der Stadt Bistritz in Böhmen wohnte eine arme Witwe 
auf dem Dorfe; diese Frau war krank, und da es im Hause an Holz mangelte, 
schickte sie ihre beiden Knaben mit einem Schlitten hinaus in den Busch. 
Von diesen Knaben war der älteste noch nicht zwölf, der andere erst acht 
Jahre alt. Wie sie mit ihrem Schlitten an der Kirche vorüber kamen, sagte 
45 der jüngere: „Janko, mir ist wunderlich zu Mute. Es ist mir, als müsste
	        
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