Full text: Deutsches Lesebuch mit Bildern für evangelische Volksschulen

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131. Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt. 
1. Es ist ein Bäumlein gestanden im Wald in gutem und schlechtem 
Wetter, das hat von unten bis oben halt nur Nadeln gehabt statt Blätter. 
Die Nadeln, die haben gestochen, das Bäumlein, das hat gesprochen: 
2. „Alle meine Kameraden haben schöne Blätter an, und ich habe 
nur Nadeln, niemand rührt mich an. Dürft' ich wünschen, wie ich 
wollt', wünscht' ich mir Blätter von lauter Gold.“ 
3. Wie's Nacht ist, schläft das Bäumlein ein, und früh ist's auf— 
gewacht; da hat es goldene Blätter fein, das war eine Pracht! Das 
10 Bäumlein spricht: „Nun bin ich stolz; goldene Blätter hat kein Baum 
im Holz.“ 
. Aber wie es Abend wird, ging der Jude durch den Wald mit 
großem Sack und großem Bart, der sieht die goldnen Blätter bald; er 
steckt sie ein, geht eilends fort und läßt das leere Bäumlein dort. 
5. Das Bäumlein spricht mit Grämen: „Die goldnen Blättlein 
dauern mich; ich muß vor den andern mich schämen; sie tragen so schönes 
Laub an sich. Dürft' ich mir wünschen noch etwas, so wünscht' ich mir 
Blätter von hellem Glas.“ 
6. Da schlief das Bäumlein wieder ein, und früh ist's wieder auf— 
20 gewacht; da hat es glasene Blätter fein, das war eine Pracht! Das 
Bäumlein spricht: „Nun bin ich froh, kein Baum im Walde glitzert so.“ 
7. Da kam ein großer Wirbelwind mit einem argen Wetter; der 
fährt durch alle Bäume geschwind und kommt an die glasenen Blätter; 
da lagen die Blätter von Glase zerbrochen in dem Grase. 
8. Das Bäumlein spricht mit Trauern: „Mein Glas liegt in dem 
Staub, die andern Blätter dauern mit ihrem grünen Laub; wenn ich 
mir noch was wünschen soll, wünsch' ich mir grüne Blätter wohl.“ 
9. Da schlief das Bäumlein wieder ein, und wieder früh ist's aufge— 
wacht; da hat es grüne Blätter fein. Das Bäumlein lacht und spricht: 
30 „Nun hab' ich doch Blätter auch, daß ich mich nicht zu schämen brauch'.“ 
10. Da kommt mit vollem Euter die alte Geiß gesprungen; sie 
sucht sich Gras und Kräuter für ihre Jungen; sie sieht das Laub und 
fragt nicht viel, sie frißt es ab mit Stumpf und Stiel. 
11. Da war das Bäumlein wieder leer; es sprach nun zu sich 
35 selber: „Ich begehre nun keiner Blätter mehr, weder grüner, noch roter, 
noch gelber; hätt' ich nur meine Nadeln, ich wollte sie nicht tadeln.“ 
12. Und traurig schlief das Bäumlein ein, und traurig ist es auf— 
gewacht; da besieht es sich im Sonnenschein und lacht und lacht. Alle 
Bäume lachen's aus; das Bäumlein macht sich nichts daraus. 
13. Warum hat's Bäumlein denn gelacht, und warum denn seine 
Kameraden? Es hat bekommen in einer Nacht wieder alle seine Nadeln, 
daß jedermann es sehen kann. Geh 'naus, sieh's selbst, doch rühr's nicht 
an! Warum denn nicht? Weil's sticht. 
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