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73. Die gute Schwester.
1. In der Stadt Elberfeld wohnte an einem Bache, der zur Wupper
fließt, ein Arbeiter. Er hatte drei Kinder: Marie, sieben Jahre alt,
Hänschen und Liese. Eines Tages waren die drei über den Steg gegangen,
um auf der Wiese zu spielen. Als der Abend kam, dachte Marie an
den Heimweg. Sie sagte: „Komm, Liese, ich trage dich über den Steg.
Hänschen, du bleibst hier, bis ich dich hole; aber geh mir ja nicht ans
Wasser!“ So trug sie die Kleinste hinüber und setzte sie in das Gras.
Wie erschrak sie aber, als sie sich umwandte! Der kleine Hans, der vor
kurzem erst laufen gelernt hatte, stand mitten auf dem Stege.
2. Sie läuft, ihn zu halten; aber ehe sie ihn erreicht, wanken die
kleinen Füße, und der Knabe stürzt ins Wasser, das ihn mit fortreißt.
Ohne Besinnen springt die mutige Schwester ihm nach. Was kann aber
daz Kind dem Kinde helfen! Der reißende Bach treibt sie beide fort.
Auf einmal gelang es ihr, den herabhängenden Zweig einer Weide zu 15
fassen, die am Wasser stand. Laut rief sie um Hilfe, mehr um das
Brüderchen, als um sich selbst besorgt, und auch das Schwesterchen im
Grase erhob ängstlich seine Stimme.
3. Da nahte ein Wanderer, der den Unfall von weitem bemerkt
hatte. Marie rief ihm zu, und er eilte zur Hilfe herbei. Da er den 20
Knaben nicht sogleich bemerkte, so wollte er das Mädchen erretten.
Dieses winkte aber und rief, er solle zuerst dem Brüderchen helfen.
Der Mann sprang ins Wasser und brachte den Knaben glücklich ans
Land. Inzwischen brach der Zweig, an dem das wackere Mädchen sich
festhielt, und sie versank im Wasser. Mit großer Mühe rettete der 25
Mann auch sie; denn der liebe Gott wollte es nicht zulassen, daß die
Schwester einen frühen Tod fände, die eher an das Brüderchen, als an
sich selbst gedacht hatte. Nach Rob. Reinick.
74. Lasst uns hingehen und desgleichen thun!
Vor Jahren sollte in der Umgegend von Halberstadt eine un- 30
gewöhnlich reiche Ernte eingebracht werden; aber es fehlte an den
ausreichenden Händen dazu. Deswegen stellten sich aus der Nach-
barschaft mehrere Leute ein, die mit ihren ckern schon fertig
waren, und boten gegen Tagelohn ihre Aushilke an. Unter ihnen
Waren aueh zwei kräftige Burschen, die von einem Gutsbesitzer 35
auf die Zeit von vier Wochen fünfzehn Thaler verlangten. Als sie
gefragt wurden, warum es gerade fünfzehn Thaler sein muüssten, ant⸗
worteten sie: „Unser Bruder, der ein Handwerk gelernt hat, möchte
diesen Herbst poch NMeister werden und braucht dazu diese Summe.
Der Vater aber kann keinen Heller beisteuern, weil er selbst nur 40