Full text: [Hälfte 1 = 5. Schuljahr, [Schülerband]] (Hälfte 1 = 5. Schuljahr, [Schülerband])

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122. Die Halligen. 
glaubten sich von Zauberei umgeben, wenn sie auf einmal neben sich 
ein freundliches Kerzenlicht durch die hellen Fenster einer Stube 
schimmern Zähen, die, halb von den Wellen bedeckt, keinen andern 
Grund als diese Wellen zu haben schien. Aber es bricht der Sturm 
zugleich mit der Flut auf das bange Eiland ein. Die Wasser steigen 
gegen sechs Meter über ihren gewöhnlichen Stand hinauf. Die Wogen 
dehnen sich zu Berg und Thal, und das Meer sendet in immer neuen, 
langen Zügen seine volle, breite Gewalt gegen die einzelnen Werften, um 
sie aus seiner Bahn wegzuschieben. Der Erdhügel, der nur eine Zeit 
lang zitternd widerstand, gibt nach; bei den unausgesetzten Angriffen bricht 
ein Stück nach dem andern ab und schießt hinunter. Die Pfosten des 
Hauses, welche die Vorsicht eben so tief in die Werfte hineinsenkte, als sie 
darüber hervorstehen, werden dadurch entblößt; das Meer faßt sie, rüttelt 
sie. Der erschreckte Bewohner des Hauses rettet erst seine besten Schafe 
hinauf auf den Boden, dann flieht er selbst nach; und hohe Zeit war es! 
Denn schon stürzen die Mauern, und nur noch einzelne Ständer halten den 
schwankenden Dachboden, die letzte Zuflucht. Mit furchtbarem Siegesmut 
schalten nun die Wogen in dem untern Teil des Hauses; sie werfen Schränke, 
Kisten, Betten, Wiegen mit wildem Spiel durch einander, schlagen sich immer 
freieren Durchgang, um alles hinauszureißen auf den weiten Tummel¬ 
platz ihrer unbändigen Kraft, und der Stützpunkte des Daches werden 
immer weniger, des Daches, dessen Niedersturz rettungslos einer noch 
vor wenigen Stunden in häuslicher Gesellschaft mit einander wirken¬ 
den, oder im sanften Arm des Schlummers neben einander ruhenden 
Familie ein schäumendes Grab bereitet. Ängstlich lauscht das Ohr, ob 
nicht das Brausen des Sturmes abnehme; ängstlich pocht das Herz bei 
jeder Erschütterung; immer enger drängen sich die Unglücklichen zu¬ 
sammen. In der Finsternis sieht keiner das entsetzliche Antlitz des 
andern; im Donnergeroll der tobenden Wogen verhallt das bange 
Gestöhn; aber jeder kann an seiner eigenen Qual die marternde Angst 
seiner Lieben ermessen. Der Mann preßt das Weib, die Mutter ihre 
Kinder mit verzweiflungsvoller Todesgewißheit an sich; die Bretter 
unter ihren Füßen werden von der drängenden Flut gehoben; aus allen 
Fugen quellen die Wasser auf; das Dach wird durchlöchert vom Wogen¬ 
sturz; ein irrer Mondstrahl dringt durch die zerrissenen Wolken, füllt 
hinein auf die Jammerscene, die, von seinem bleichen, zuckenden Lichte 
beleuchtet, in all ihrer Furchtbarkeit erscheint und die angstverzerrten 
Gesichter einander spiegelt. Da kracht ein Balken. Ein furchtbarer 
Schreckruf! Noch eine martervolle Minute! Noch eine! Der Dachboden 
senkt sich nach einer Seite; ein neuer Flutenberg schäumt herauf, uud —
	        
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