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Allein der Knecht hielt sich so tapfer, daß ihm nicht ein einziges
zorniges Wort entwischte. Am Abend gab Fridolin ihm den Thaler
und sagte: „Schäme dich, daß du einem elenden Stück Geld zu
liebe deinen Zorn so gut überwinden kannst, allein aus Liebe zu
Gott es nicht thun magst!" Der Knecht besserte sich und wurde
ein sanftmütiger Mensch.
Laß Gottes Liebe stets dein Herz durchdringen,
So wirst du auch das Schwerste leicht vollbringen.
93. Der Löwe und die Maus.
(Nach Äsop.)
Der Löwe schlief einst in seiner Höhle; um ihn her spielte
eine Schar lustiger Mäuse. Eine derselben war oben auf einen vor¬
stehenden Felsen gekrochen, fiel herab und erweckte den Löwen, der
sie mit seiner gewaltigen Tatze festhielt. „Ach," bat sie, „sei
doch großmütig gegen mich armes, unbedeutendes Geschöpf! Ich
habe dich nicht beleidigen wollen, ich habe nur einen Fehltritt
gethan und bin vom Felsen herabgefallen. Was kann dir mein
Tod nützen! Schenke mir das Leben, und ich will dir zeitlebens
dankbar sein!" „Gehe hin," sagte der Löwe großmütig und ließ
das Mäuschen springen. Bei sich aber lachte er und sprach:
„Dankbar sein! Nun, das möcht' ich doch sehen, wie ein Mäuschen
sich einem Löwen dankbar bezeigen könnte!"
Kurze Zeit darauf lief das nämliche Mäuschen durch den
Wald und suchte sich Nüsse; da hörte es das klägliche Gebrüll
eines Löwen. „Der ist in Gefahr!" sprach es bei sich und ging
der Stelle zu, woher das Gebrüll ertönte. Es fand den groß-
mütigen Löwen von einem starken Netze umschlungen, das der
Jäger künstlich ausgespannt hatte, um damit große Waldtiere zu
fangen. Die Stricke hatten sich so fest zusammengezogen, daß der
Löwe weder seine Zähne noch die Stärke seiner Tatzen gebrauchen
konnte. „Warte nur, mein Freund," sagte das Mäuschen, „da
kann ich dir wohl am besten helfen!" Es lief hinzu, zernagte die
Stricke, welche die Vordertatzen des Löwen gefesselt hatten, und
als diese frei waren, zerriß er das übrige Netz und ward so durch
die Hilfe des Mäuschens wieder frei.
94. Der sterbende Löwe.
(Gotthold Ephraim Lessing.)
Ein alter Löwe lag kraftlos vor seiner Höhle und erwar¬
tete den Tod. Die Tiere, deren Schrecken er bisher gewesen
war, bedauerten ihn nicht; sie freuten sich vielmehr, daß sie sei-