122 EV. Leben in Staot und Vorf.
L. Leben in Stadt und Dorf.
176. Das Leben der Stadt.
Die Nacht entweicht. Straben, Gassen und Plätze sind noch
dunkel. Alles ist noch leer und mäuschenstill. Die Türen der
Hauser sind noch geschlossen, die Fenster noch verhangen; aber
schon spiegelt sich das Morgenrot in den Scheiben.
Allgemach steigt die Sonne höher. Die Schatten werden
kürzer. Markt und Straben werden heller. Endlich fallen die
Sonnenstrahlen auch in das engste Gäbehen. Da õffnet sich das
Penster eines Dachstübehens. Ein schlaftrunkenes Gesicht schaut
heraus, und frische Morgenluft sfrömt in das Gemach. Eine Tũr
knarrt, eine zweite, eine dritte. Dienstmädchen huschen heraus
und eilen zum Bäcker. Arbeiter gehen nach der Fabrik, Gesellen
nach der Werkstatt, Bauleute nach dem Bauplatze.
Nun öffnen sieh alle Augen der hohen Häuser. Ein behäbiger
Bürger tritt auf den Balkon und betrachtet sich das erwachende
Leben der Stadt. Er sieht, wie die Landleute mit ihren Waren,
die Arbeiter aus den Vorstädten in die Stadt hereinziehen. Er
bemerkt, wie ein Schornstein nach dem andern sein Rauchgewõölk
zum Himmel schickt.
Überall fängt eine emsige Arbeit an, hier laut, dort still. In
allen Werkstätten wird gehämmert, gesägt, gegossen, gelötet,
gewebt, geklebt; es wird gestaltet in Disen, Kupfer, Zinn, Blech.,
Hol- und Stein. „Tausend fleibge Hände regen, helfen sieh in
munterm Bund.“ Es füllen sich die Schulen aller Art, die Schreib-
Ftuben auf dem Gerichte und dem Rathause, auf der Post und
dem Steueramte. Es öffnen sich die Laden der Kaufleute. Zahl-
lose Federn setzen sieh in Bewegung, um Briefe zu schreiben,
Geschäfte zu ordnen, Prozesse zu schlichten, das Wohl der
Stadt zu fördern. „Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der
Mũhe Preis.“
In den Straben wogt es auf und ab. Fremde, welche die
Sehenswũrdigkeiten betrachten, Kaufleute, Beamte, Handwerker,
Brieftrâger und Polizeidiener, Prauen und Dienstmaàdchen drängen
sich auf dem Bürgersteige. Bald wimmelt es wie in einem
Bienenkorbe. So flutet das Leben einer groben Stadt, bis die
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