Kaiser Wilhelms 1. Herzensguͤte. 59
meines hohen Standes wegen nicht für besser halten als andre Menschen.
Meines Gottes will ich überall gedenken; an ihn will ich in allen Dingen
mich wenden und im Gebete mit ihm meine Seele vereinigen. Ich weiß,
daß ich ohne ihn nichts bin und nichts vermag. — Ich will ein auf—
richtiges und herzliches Wohlwollen gegen alle Menschen, auch gegen die
geringsten, beweisen; denn sie sind alle meine Brüder. — Gegen die
Bedürftigen will ich wohltätig sein in dem reichen Maße, worin mir
Gott zeitliche Güter gewährt hat. Ich will mich darin von keinem, der
weniger besitzt, übertreffen lassen.“
Uach Verschiedenen.
211. Kaiser Wilhelms J. Herzensgüte.
PVin Soldat aus Mecklenburg stand vor Paris (1870) auf
Vorposten. Hier erhielt er einen Brief aus seiner Heimat, und
da er lange ohne Nachricht geblieben war, konnte er sich nicht
enthalten, denselben sogleieh zu erbrechen. Beim Lesen vertieft
er sich nun so, daß er kein Auge und Ohr für das hat, was um
ihn her vorgeht. Plötzlieh hört er Geräusch, sieht auf und erblickt
den König und den Kronprinzen nebst Gefolge. Erschreckt läbt
er den Brief fallen und grüßt vorschriftsmäbig.
Der König, der seine Angst und Verwirrung bemerkte, ritt
freundlich auf ihn zu und fragte: „Nun, ein Brief von der
Braut?“ — „Nein, Majestàät, von meinem Vater!“ entgegnete
dieser. „Darf ich den Brief lesen, oder enthält er Geheimnisseè“
fragte der König weiter. Der Soldat übergab hierauf den Brief
dem Könige. Dieser wendete siech zu seiner Umgebung und las
unter anderm folgendes laut vor: „In 14 Tagen hat Deine
sschwester Hochzeit; wir alle werden Dich an diesem Tage
schmerzlich vermissen; am meisten grämt sieh aber Deine alte
Mutter, Dich nicht zu sehen. Schadet aber nichts, haue nur
tüchtig auf die Franzosen ein, damit diesen RKerls recht bald
das grobe Maul gestopft werde!“
Der König gab den Brief zurück und ritt weiter. Es währte
aber nicht lange, so wurde der Soldat von seinem Posten abgelöst.
Er erhielt 14 Tage Urlaub und konnte auf Kosten des Königs die
Reise nach Mecklenburg antreten. Nach F. Schneider.
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