Full text: Zweites Lesebuch für die Mittelstufe (Teil 4, [Schülerband])

2. Verrichte treu das Deine! 
48. Besser ein Flick als ein Heck im Kleide. 
Wenn du einen Fleck an deinem Kleide oder irgendwo einen Riß 
hast, denkst du oft: „Pahl das sieht man nicht, und die Leute haben 
andres zu tun, als immer alles an mir auszumustern.“ Du gehst 
dann frank und frei herum, und es kann oft sein, du hast recht, es sieht 
niemand den Fleck und den Riß. 
Wenn du aber etwas Schönes auf dem Leibe hast, sei es nur ein 
schönes Halstuch oder ein frisches Hemd mit weißer Brust oder gar eine 
goldene Nadel und dergleichen, da gehst du oft mit herausforderndem 
Blicke hinaus und schlägst die Augen dann nieder, um es nicht zu be— 
merken, wie alle Leute, was sie in Händen haben, stehen und liegen lassen 
und gar nichts tun, als deine Herrlichkeit betrachten. — So meinst 
du; aber das ist gefehlt, kein Blick wendet sich nach dir und deiner Pracht. 
Das eine Mal meinst du, man sieht dich gar nicht, und das andre 
Mal, die ganze Welt hat auf dich gewartet, um dich zu beschauen; aber 
beides ist gefehlt. 
Gerade so ist es auch mit deinen Tugenden und Lastern. 
Wenn du einen bösen Weg gehst, meinst du, es kennt dich kein 
Mensch und keiner sieht sich nach dir um, und es ist stockdunkel. Wenn 
du aber dem Rechtschaffenen nachgebst, redest du dir oft ein, jeder Pflaster— 
stein hat Augen, jedes Kind kennt dich und deine Gedanken, und tausend 
Sonnen scheinen. Aber das Gute wie das Schlimme wird oft von der 
Welt übersehen. Ein Auge aber sieht alles, das ist Gottes. 
Darum halte dich selber vor deinem Gotte über dir und deinem 
Gewissen in dir in Ehren; dann brauchst du nicht das eine Mal zu 
fürchten, daß dich alles sieht, und dir dabei etwas vorzulügen, und das 
andre Mal zu zürnen, daß dich niemand sieht. Bertold Auerbach. 
49. Lieber das Leben als die Treue lassen. 
Als die Franzosen im Jahre 1807 Danzig von allen Seiten ein— 
zuschließen suchten, kamen sie auch in das Dorf Kahlberg, ließen den 
Schulzen kommen und verlangten, er solle ihnen über die Umgegend 
genaue Auskunft geben. Aber dieser erklärte trotz aller Drohungen, er 
habe als Untertan seinem Landesvater den Eid der Treue geschworen 
und könne deshalb den Feinden seines Königs keine Dienste leisten, die dem 
Lande nachteilig werden könnten. Als man drohte, ihn zu erschießen, 
wenn er nicht sogleich gehorche, antwortete er: „Nun, wenn ich erschossen 
werden soll, so will ich mich lieber erschießen lassen, weil ich meine Pflicht 
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