B. Pflichten gegen Gott und Menschen.
55. Die Schuhe und zwei Taler.
Ein junger Engländer von achtzehn bis zwanzig Jahren, der auf
der Hochschule war, ging eines Abends mit einem Professor, den man
nur den Studentenfreund nannte, in der Umgegend der Stadt spazieren.
Während sie nun so nebeneinander gingen, sahen sie neben dem Wege
ein Paar kotige Schuhe liegen, die, wie sie vermuteten, einem armen,
auf dem nahen Acker arbeitenden Manne gehören mußten. Der Jüngling
wandte sich zum Professor mit den Worten: „Wir wollen dem Manne
einen Streich spielen, ihm seine Schuhe verbergen und uns dann hinter
das nahe Gebüsch verstecken, um ihn zu belauschen und seine Ver—
legenheit zu sehen, wenn er seine Schuhe nicht mehr finden wird.“
— „Mein lieber Freund,“ entgegnete der Professor, „man muß nie auf
Unkosten des Armen sich lustig machen. Sie sind reich und daher im
stande, sich und dem armen Manne zugleich ein viel schöneres Vergnügen
zu bereiten. Legen Sie in jeden Schuh einen Taler, und dann wollen
wir uns verbergen.“
Der Student gehorchte, und jetzt stellte er sich mit dem Professor
hinter das Gebüsch, durch welches hindurch sie jedoch den Bauer bequem
beobachten konnten. Bald hatte der arme Mann seine Arbeit vollendet
und ging den Acker entlang dem Wege zu, an welchem er seinen Rock
und seine Schuhe niedergelegt hatte. Während er den erstern anzog,
schlüse er auch mit dem einen Fuße in einen seiner Schuhe; er fühlte
etwa Hartes, bückte sich und fand den Taler. Erstaunen und Ver—
wunderung malten sich auf seinem Gesichte; er besah den Taler, kehrte
ihn um und besah ihn noch einmal und abermals; jetzt wandte er seinen
Blick nach allen Seiten hin, sah aber niemand. Nun steckte er das Geld
in die Tasche und wollte den andern Schuh auch anziehen; aber wie
groß war seine Überraschung, als er nun den andern Taler fand! Das
Gefühl überwältigte ihn; er fiel auf die Knie, blickte gen Himmel und
rief aus: „O Herr, mein Gott, so ist es doch wahr, daß du diejenigen
nicht verlässest, die auf dich trauen! Du wußtest, daß meine Kinder kein
Brot haben, daß mein Weib krank daniederliegt, und daß ich rat- und
hilflos war. Da hast du mir, du lieber himmlischer Vater, durch irgend
ein zum Wohltun geneigtes Herz dieses Geld zugesandt, damit mir
geholfen würde! Ach, daß meine Seele deine Güte immer erkennen
möchte, und daß ich dir meine Dankbarkeit bis in den Tod bezeigen
könnte! Das Werkzeug deiner barmherzigen Hilfe aber segne reichlich,
du Vergelter alles Guten, mit deinem besten Segen!“
Der Jüngling stand da in tiefer Rührung, und Tränen benetzten
seine Augen. „Nun,“ sagte der Professor, „sind Sie jetzt nicht vergnügter,
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