347
den nächsten Angehörigen, die nicht mit übertreten wollen, ferner
mit Verlust von allem Eigentum, das dem Übertretenden von Rechts
wegen gehört, und mit Verlust auch der Arbeit, die er hatte, so¬
lange er noch Glied seiner Kaste war. Solche Hindernisse stellen
nicht geringe Anforderungen an den sittlichen Mut. Wie manche
unter den Hindu, die ich kennen lernte, würden in die Christen¬
gemeinde eintreten, wenn nur diese Schwierigkeiten nicht wären!
Davon ein Beispiel:
Etwa eine Stunde von Kannanur entfernt, ganz in der Nähe
einer meiner Filialgemeinden, lebt ein heidnischer Rechtsanwalt,
der mir persönlich nahesteht — wir besuchten einander wieder¬
holt — und mit dem ich Briefe wechsle. Unter einer einheimischen
Regierung hätte er als Angehöriger der Palmbauernkaste den Beruf
eines Rechtsanwalts niemals ergreifen können; daß er es geworden
ist, verdankt er der englischen Regierung, unter der Indien steht
und die einem jeden Hindu, der studieren will und die Mittel
hat, ohne Ansehen der Kaste Gelegenheit dazu bietet. Wohl¬
habend und angesehen ist dieser Mann, auch gebildet und in
verschiedenen Gebieten des Wissens zu Haus. Neben der Landes¬
sprache spricht er das Englische fließend und richtig. AIs ich
einmal bei ihm war, lag das Neue Testament auf seinem Schreib¬
tisch, und das Aussehen des Buches bewies, daß es fleißig ge¬
lesen wurde. Welch hohe Meinung er von Christus und dem
Christentum hat, ist ersichtlich aus einigen Schriften, die er im
Druck erscheinen ließ und in der Absicht verfaßte, damit etwas
zur Hebung der Lage seiner Kastengenossen, der Palmbauern,
beizutragen. So sagt er in einer solchen Schrift über Jesus u. a.
folgendes: »Ich für meinen Teil bezweifle, daß jemals in der Welt
ein Lehrer aufgetreten ist, der so heilig und rein war wie er, bei
dem Worte und Taten so übereinstimmten wie bei ihm, der so
durchdrungen war und erfüllt von Gottes- und Bruderliebe wie er.
Unter Menschen steht er in seiner Größe einzigartig da.« Ist das
nicht ein schönes Zeugnis aus dem Mund eines Heiden, der mit
seiner Hindureligion wohl bekannt ist? Wie kommt es, daß dieser
Mann bei seiner hohen Meinung von Christus und dem Christen¬
tum nicht selber ein Christ wird? Das Haupthindernis ist eben
auch für ihn die Kaste. Seine Frau ist allerdings nicht mehr am
Leben; aber er weiß, daß seine übrigen Angehörigen, Brüder und
Schwestern, ja vielleicht auch ein Teil seiner eigenen Kinder, im