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die Flamm empor, umwehend ringsum ihn
gleich einem Segel, das ihn kühlete,
gleich einem glänzenden Gewölbe, das
den Edelstein in seine Mitte nahm
und schöner ihn verklärte, bis ergrimmt
ihm eine freche Faust das Herz durchstieß.
Er sank, es floß sein Blut, die Flamm erlosch,
und eine weiße Taube flog empor. Johann Gottfried Herder.
59. Luise Scheppler.
Wohl dem Kinde, das von klein auf im Elternhaus eine liebe¬
volle Pflege und eine sorgfältige Erziehung genießt! Aber gar viele
Knaben und Mädchen entbehren dieser Wohltat, weil ihre Väter und
Mütter außerhalb des Hauses dem Erwerbe nachgehen müssen und
sich wenig um sie kümmern können. Man hat deshalb Kind erb ew ahr-
anstalten errichtet, in denen solchen Kindern während der Abwesen¬
heit ihrer Eltern Aufsicht und Pflege zuteil wird. Das Verdienst, die
Gründung solcher Anstalten veranlaßt zu haben, gebührt einem ein¬
fachen Mädchen, der Dienstmagd des Pfarrers Oberlin zu Walders¬
bach im Steintal.
Das Mädchen hieß Luise Scheppler und war geboren am
4. November 1763. Luise kannte keinen höhern Genuß, als im Pfarr-
hause kleine Dienstleistungen zu übernehmen oder der Frau Pfarrerin
auf ihren Gängen zu den Armen und Kranken den Korb mit den
Lebensmitteln zu tragen. Die größte Freude ward ihr zuteil, als
sie nach ihrer Konfirmation als Magd in das Pfarrhaus einziehen
durfte. Schon lange hatte man hier das Kind mit dem regen Geist
und dem herrlichen Gemüt liebgewonnen; und gar bald merkten die
braven Pfarrleute, daß sie an der neuen Magd nicht nur eine Helferin
im Hause sondern auch eine treffliche Gehilfin bei ihrem Wirken in
der Gemeinde gefunden hatten.
Luise besaß eine große Liebe zu kleinen Kindern. Mitleidig
blickte sie auf die armen Kleinen, die, während ihre Eltern im Wald
oder auf dem Feld arbeiteten, ganz sich selbst überlassen, lärmend
oder weinend auf der Straße weilten und hier mancherlei Gefahren,
besonders der Gefahr sittlicher Verwahrlosung, ausgesetzt waren. Sie
sann nach, wie es möglich wäre, etwas für diese bedauernswerten
Kinder zu tun, und kam endlich auf den Gedanken, selbst eine An¬
zahl kleiner Mädchen und Knaben in mütterliche Pflege zu nehmen.