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streifen in der Chinesenstadt zugebracht, bin dessen nie müde geworden,
und kein Tag ist vergangen, ohne daß ich mit einer Fülle neuer Ein¬
drücke heimgekehrt wäre.
Die Straßen sind mit wenigen Ausnahmen so eng, daß man kaum
begreift, wie zwei Sänften aneinander vorbeikommen können. Einige
sind mit weitmaschigen, von Dach zu Dach gespannten Bambusflecht¬
werken bedeckt zur Brechung des grellen Sonnenlichts. Sie sind dadurch
bedeutend kühler als die nicht in dieser Weise geschützten Straßen. Die
Häuser der Kaufleute sind oft zwei- oder dreistöckig, die der Handwerker
meist nur aus drei überdachten Wänden gebildete, nach vorn gänzlich
offene Räume, so daß den Passanten nichts von dem, was drinnen ge¬
schieht, entgehen kann. Tischler, Schmiede, Fächermaler, Elfenbein¬
schnitzer, Seidenweber und -sticker, öffentliche Briesschreiber, Quacksalber
und Zahnkünstler — alle arbeiten sie unmittelbar vor den Augen der
sich ohne Unterbrechung vorüberwälzenden Menschenmasse. Hier schlagen
die Goldschaumschläger mit hölzernen Schlägeln in wahrer Berserkerwut
die in kleine Pakete geschnürten, zwischen feine Stahlplättchen gelegten
Goldplättchen breit, dort walken, aus einem schaukelartig konstruierten
Walksteine balanzierend, schwitzende Kulis grobe Seidenstoffe; in einer
Nebengasse sitzen Drechsler am Tretrade und setzen mit diesem nicht
selten gleichzeitig einen am Tretbrette befestigten langstieligen Fächer in
Bewegung, um sich Kühlung zuzufächeln.
In der Gasse der Jadesteinschleifer schnurren die kompliziertesten
Schleifmaschinen, während gleichzeitig mit Hilfe großer, aus zusammen¬
geflochtenem Eisendraht bestehenden Säginstrumente Steine zerschnitten
werden. Hier wieder werden an Webstühlen oder freihändig die hoch¬
geschätzten chinesischen Bambusmatten geflochten, dort Bilder der ver¬
schiedensten Heiligen und gewöhnlicher Sterblichen gemalt und reich mit
Vergoldung versehen.
Eine Spezialität Kantons sind ferner Silberarbeiten in Gestalt von
Dosen und Schmuckgegenständen mit eingelegten winzig kleinen Teilchen
der metallisch glänzenden hellblauen Flügelfedern des Kingfischers (Eis¬
vogels).
Die größte Gilde ist allem Anscheine nach die der Schuhmacher.
Es gibt ganze Stadtteile, wo man nichts sieht als Schuster und ihre
mit fast zolldicken Filz- oder Papiersohlen versehenen Erzeugnisse. Nur
die Damenschuhe, nicht viel größer als kleine Champagnerkelche, sind
mit Hacken und Ledersohlen versehen. — Einer der abstoßendsten Ge¬
bräuche in China ist die durch unausgesetztes Bandagieren herbeigeführte
Verkleinerung und Verkrüppelung des Frauenfußes. Ein Glück ist es,
daß infolge der mit der Fußverkrüppelung verbundenen Gehunfähigkeit,
wie ich wenigstens bei den Schifferfamilien beobachtet habe, die Kinder
der ärmeren Volksklassen, die im Kampfe ums Dasein auf normal ent¬