Full text: [Teil 2 = Mittel- und Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Mittel- und Oberstufe, [Schülerband])

68. Deutscher Rat. 
erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde zogen 
einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als 
ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe führten. Ein langer 
Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar und 
Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein 
einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein wehmütiges Gefühl, 
das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und 
er blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber 
war. Doch machte er sich an den letzten vom Zuge, der eben in der Stille 
ausrechnete, was er an seiner Baumwolle gewinnen könne, wenn der Zentner 
um zehn Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treu⸗ 
herzig um Entschuldigung. „Das muß wohl auch ein guter Freund von 
Euch gewesen sein,“ sagte er, „dem das Glöcklein läutet, daß Ihr so betrübt 
und nachdenklich mitgeht?“ — „Kannitverstan!“ war die Antwort. Da 
fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, 
und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz. „Armer 
Kannitverstan!“ rief er aus, „was hast Du nun von all deinem Reichtum? 
Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein 
Leintuch und von allen deinen schönen Blumen vielleicht ein Rosmarin auf 
die kalte Brust oder eine Raute.“ Mit diesen Gedanken begleitete er die 
Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn 
Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen 
Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher 
deutschen, auf die er nicht achtgab. 
Endlich ging er leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte 
in einer Herberge, wo man deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück 
Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, daß 
so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur 
an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein 
reiches Schiff und an sein enges Grab. Johann Peter Hebel. 
n 
68. Deutscher Rat. 
1. Vor allem eins, mein Kind: sei treu und wahr, 
laß nie die Lüge deinen Mund entweihn! 
Von alters her im deutschen Volke war 
der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein.
	        
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