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„Davon wirst du dich überzeugen, wenn du die Verfassung des Deutschen
Reiches liest, in dem die Rechte geschrieben stehen, die der Reichstag hat.
Neben dem Bundesrat, d. h. den Bevollmächtigten aller Staaten, die zum
Deutschen Reiche gehören, steht der Reichstag ebenbürtig. Jeder Pfennig,
der für das Heer, die Flotte oder die Post ausgegeben werden soll, muß
vom Reichstag bewilligt werden. Kein Bataillon Soldaten darf neu er—
richtet, kein neues Kriegsschiff gebaut werden, wenn er nicht zustimmt.
Alle Zölle und Verbrauchssteuern sind vom Reichstag festzusetzen. Ohne
seine Einwilligung können Handelsverträge mit andern Staaten nicht ab—
geschlossen werden. Kein Paragraph im Bürgerlichen Gesetzbuch und im 10
Strafgesetzbuch darf ohne seine Genehmigung geändert werden. Er ent—
scheidet mit, ob die Gesetze über den Arbeiterschutz und die Arbeiter—
versicherung ausreichen, ob und unter welchen Bedingungen Kinder in einem
Gewerbe oder in Fabriken beschäftigt werden dürfen. Jedes der 397 Mit—
glieder des Reichstages kann im Reichstag seine Meinung frei äußern, ob 15
er die Anordnungen der Reichsbeamten für nützlich hält oder nicht.“
„Für wieviel Jahre werden die Reichstagsabgeördeten denn gewählt?“
fragte der Lehrling weiter, und Meister Ewig antwortete: „Für fünf.
Eine solche Reihe von Jahren nennt man eine Wahlperiode. Es kommt
aber auch vor, daß der Kaiser unter Zustimmung des Bundesrates den 20
Reichstag auflöst und die Wähler auffordert, neue Abgeordnete zu wählen.“
Endlich war der Wahltag gekommen. Unsere beiden Freunde gingen
auch diesmal wieder zusammen. Sie hatten in der neuen Schule zu
wählen. Vor dem Hause standen junge Männer, die ihnen Stimmzettel
mit dem Namen eines Kandidaten gaben. Um 10 Uhr begann die Wahl. 25
An einem Tische saß der Wahlvorsteher mit vier Beisitzern. Auf dem
Tische stand ein verdecktes Gefäß, die Wahlurne. Ewig ließ sich einen
gestempelten Briefumschlag geben und ging in einen auf allen Seiten ver—
hängten Raum, die Wahlzelle, wo er seinen Stimmzettel unbeobachtet in
den Umschlag steckte Darauf trat er an den Wahltisch, nannte seinen 30
Namen und überreichte den Umschlag dem Wahlvorsteher, der ihn uneröffnet
in die Wahlurne legte. Ihm folgte Baltes. Nach und nach kamen viele
Wähler. Da standen junge Leute, die zum erstenmal wählen durften, da
sie 25 Jahre alt waren. Männer und Greise kamen und gingen. Arbeiter
erschienen in ihrer Werktagskleidung, da sie unmittelbar von ihrer Arbeits- 35
stelle kamen, und Herren im Zylinder. Bei der Reichstagswahl kommt
es auf Stand und Vermögen nicht an: ob arm oder reich, ob vornehm
oder gering, ob Arbeiter oder Arbeitgeber, ob Herr oder Knecht — heute
sind alle Stimmen gleich; denn „gleiches Wahlrecht“ gilt für alle.
Mit dem Glockenschlag sieben schloß der Wahlvorsteher die Wahl und 40
nahm keinen Stimmzettel mehr an. Der Wahlvorstand stellte nun fest,
wieviel Stimmen im Wahlbezirk abgegeben worden waren, und wieviel
die einzelnen Kandidaten bekommen hatten. Die Umschläge wurden aus