Full text: Lesebuch für Schlesien

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„Na, Kinder," wandte er sich nun mit dem Glase an seine Neffen, 
„nun probiert einmal, was uns der Herbst gebracht hat." 
Mit Behagen kosteten die beiden den süßen Most. „Ja, jetzt lasse 
ich mir's gefallen", rief Fritz. Auch Hans änderte nun gern seine An¬ 
sicht über die „schmutzige Brühe". Nur eins ging ihm noch im Kopfe 
herum und wollte ihm nicht recht klar werden, wie nämlich die rötliche 
Flüssigkeit hier später zu der hellen Goldfarbe kommt. Er wandte sich 
deshalb an den Onkel mit der Bitte, ihm doch zu erklären, wie denn nun 
aus diesem süßen Moste der eigentliche Wein gemacht werde, der ja doch 
gar nicht süß, schmecke. 
„Gemacht wird da gar nichts, mein Sohn," sagte der Onkel, „das 
Geschäft besorgt der Most selber. Der ausgepreßte Traubensaft kommt 
nun in große Fässer, die ihr bereits im Keller unten liegen sehen konnt. 
Darin fängt er bald an gewaltig zu rumoren; das braust und rauscht 
so sonderbar, als ob ein Heer von Geistern in den Fässern arbeitete und 
schasste, und wir sagen dann, der Wein ,gärt*. Bei diesem Vorgänge 
setzen sich die unreinen Teile sämtlich ab und bilden die Hefen und den 
krustiger: Weinstein. Die Flüssigkeit wird dadurch natürlich heller und 
reiner und muß mehrmals auf andre Fässer gezogen werden, bis sie 
ruhiger und goldklar geworden ist. Der Zuckerstoff, den ihr ganz leicht 
ans den: Moste hier herausschmeckt, verwandelt sich nach und nach in 
Alkohol. Das ist der gefährliche Geist, der dann den Weiü so berauschend 
und feurig macht, und der in: Kopf anfängt zu rumoren, wenn einer gar 
zu oft und tief ins Glas schaut." 
3. Mittlerweile war der Most völlig herausgepreßt worden. Da 
drehten denn die Männer die Schraube auf, entfernten den Verschluß, 
und ein großer, aus Stielen und Traubenhülsen gepreßter Kuchen wurde 
sichtbar. 
„Das ist der Trester," sagte einer der Männer, „den kauft der 
Branntweinbrenner, der ihn gar gut zur Branntweinbereitung verwenden 
kann." 
IV. Winzerfreuden. 
1. Nachdem sich nun unsre' beiden Stadtkinder mit Muße alles be¬ 
sehen und am Moste nach Herzenslust gelabt halten, wanderten sie lvieder 
nach den Weinbergen, wo des Onkels Leute immer noch rüstig bei der 
Lese waren. v 
Als dann der Abend allmählich seine dunkeln Schleier über die weite 
Landschaft ausbreitete, flog da und dort ein zischender Schwärmer auf, 
oder ein Schuß krachte durch die Luft, beantwortet vom fröhlichen Jauchzen 
der Leser. 
Bald tönte von: Kirchtnrn: die Feierabendglocke, und mit Sang und 
Klang, wie sie gekommen, zogen die Leute wieder nach Hause, um sich bei 
einer kräftigen Mahlzeit für des Tages Mühe zu entschädigen.
	        
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